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Klopf, klopf! Wer ist da? Der Fachkräftemangel!

Seit über 8 Jahren bin ich jetzt als Texterin und Autorin selbstständig – und genauso lange schreibe ich schon Artikel über den Fachkräftemangel. Wie er sich verschärft und verschärft, dieser Schlingel. Der große Unterschied zu früheren Jahren ist, dass ich ihn jetzt schmerzhaft im Alltag spüre. Wenn ich daran denke, dass das erst der Anfang ist, wird mir schlecht.

Ich erinnere mich an den Zeitpunkt, als es plötzlich keine Arzttermine mehr gab. In meiner Wahrnehmung war das plötzlich. Vielleicht war ich aber vorher einfach nur jung und gesund gewesen, sodass es mir nicht auffiel. Vielleicht gibt es wie bei der Klimakrise auch beim Fachkräftemangel Kipppunkte, wo man plötzlich merkt: Auweia, das ist ja nicht nur ein Schlagwort, das betrifft mich ja selber!

Irgendwann hieß es: Man kriegt jetzt so schwer Handwerker. Da ist nix mehr mit drei Angebote einholen, sondern man ist still und dankbar für jeden, der sich herablässt, irgendwas zu installieren oder zu reparieren. Inzwischen ist es fast schon wieder wie zu Ostzeiten, als man den Handwerker*innen den roten Teppich ausrollte oder sie zumindest mit Bier, Kuchen oder im Sommer mit einem Eis versorgte.

In der Pandemie fielen dann notgedrungen die letzten Hemmungen. Läden blieben zu oder hängten ein Schild ins Schaufenster: „Wegen Personalmangel eingeschränkte Öffnungszeiten“. Die Betreiberin eines Reisebüros bei mir um die Ecke teilte in einem ausführlichen Aushang mit, sie habe festgestellt, dass ihre Anwesenheit im Reisebüro gar nicht erforderlich sei. Außerdem sei sie mit ihrem neuen Job im Geflüchtetenzentrum sehr glücklich – endlich mal was Sinnvolles. Wer eine Reise buchen wolle, könne sie ja gern auf dem Handy anrufen.

Keine Leute

Dass man in Berlin phasenweise keine Termine im Bürgeramt bekommt – ja, richtig, gar keine –, ist mittlerweile ein running gag. Nicht sehr lustig für diejenigen, die etwas Dringendes zu erledigen haben, z. B einen Reisepass brauchen oder Kindergeld für ihr Neugeborenes beantragen wollen. Aber es fehlt an Personal (und Digitalisierung, aber wie wir im nächsten Absatz lesen werden, löst die auch nicht alle Probleme).

Neulich fragte mich ein Freund, ob ich ihm helfen könnte, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen. Er hatte alle Dokumente beisammen. Wir googelten, wie und wo man den Antrag stellen muss und stellten fest, dass es einen Stau von 35.000 bis 50.000 Anträgen gibt. (Offenbar weiß man es nicht so genau.) Seit 2024 kann man den Antrag in Berlin online stellen und es gibt ein zentrales Team für die Bearbeitung – allerdings fehlt es auch dort an Personal. Von den 210 geplanten Stellen sind bislang erst 65 besetzt. Aktuelle Wartezeit auf die Einbürgerung: 1 bis 5 Jahre. Welcome to Germany!

Um den Ausbau des Berliner Radwegenetzes zu blockieren, braucht man nicht mal eine rückwärtsgewandte CDU-Regierung. Auch vorher schon stockte das Vorhaben, denn die Stadt fand nicht genug Verkehrsplaner*innen. Momentan sind beim Land Berlin über 700 Stellen frei. Bei der Deutschen Bahn sind es 1.500 allein in Berlin.

Eltern spüren den Fachkräftemangel gerade bundesweit in der Kitakrise (befeuert durch die aktuelle Corona- und Grippewelle). Kitas verkürzen die Öffnungszeiten oder müssen ganz dicht machen – es sind einfach keine Erzieher*innen da oder sie sind krank.

Über das Gesundheitswesen brauchen wir gar nicht reden. Das pfeift schon jetzt auf dem letzten Loch. Meiner Erfahrung nach ist die medizinische Versorgung noch halbwegs (!) gesichert, aber die pflegerische und vor allem menschliche Ebene fällt hinten runter. Wenn man sich dann noch vor Augen führt, dass unsere Gesellschaft immer älter und kränker wird, kann man nur schwarzsehen. Momentan sind 1,8 Mio. Menschen in Deutschland dement, jährlich kommen 400.000 dazu. Jährlich! 400.000! Wer soll die alle versorgen?

Aber jetzt kommt’s: Bisher reden wir vor allem über das Quantitätsproblem, also die fehlenden Menschen. Was mir in der Diskussion völlig fehlt, ist die Qualität.

Unqualifizierte Arbeitskräfte

„Hm“, sagte meine 76-jährige Tante mit einem kritischen Blick auf die neuen Fliesen. „Da hat der Fliesenleger ja gar nicht verfugt. Egal, das kann ich irgendwann mal machen. Ich kann das sowieso besser als der.“ Mir war auch schon aufgefallen, dass die Fliesen nicht ganz gerade verlegt waren. Also noch tolerabel, aber nicht perfekt. Da fiel mir ein, dass der Fliesenleger mir erzählt hatte, dass er eigentlich gar kein Fliesenleger war, sondern Trockenbauer. „Aber ick mach allet, wat so anfällt.“ Nun ja, das sah man allerdings auch. 😀

Rosinenpickerei

Die andere Seite der Medaille verkörperte sein Kollege, der Rohrleger. „Ah, Rohrleger!“, hatte ich ihn begeistert begrüßt. „Machen Sie eigentlich auch die Rohrlegerei, wenn man die Badewanne durch eine Dusche ersetzen will? Ist wohl etwas aufwändiger.“ Der Rohrleger schüttelte den Kopf. „Wissen Se, dit tu ick ma nich mehr an. Früher ja, aber jetzt hab ich da keenen Bock mehr druff.“ Okay, dachte ich, fair enough. Wenn wir alle nur noch machen, worauf wir Lust haben, warum soll das dann nicht auch für Handwerker*innen gelten? Trotzdem musste ich schlucken, denn ich bin ja in diesem Fall darauf angewiesen, dass jemand das professionell macht.

Totalausfall

Ein Freund, der einen kaufmännischen Beruf macht, berichtete mir, dass ein neuer Kollege in seinem Team aufgetaucht war. Nennen wir ihn Igor. Igor sprach kaum Deutsch, hatte keine Ahnung vom Geschäft und schien auch nicht besonders interessiert, das zu ändern. Jedenfalls stellte er keine Fragen und machte sich keine Notizen. Mein Freund war schwer genervt von Igor, denn er musste dessen Job mitmachen. „Wieso habt Ihr den denn überhaupt eingestellt?“, fragte ich. „Das war die einzige Bewerbung, die wir bekommen hatten“, antwortete er und schien es selbst kaum fassen zu können.

Und jetzt stellt Euch vor, Ihr braucht ein Angebot von Igors Firma, ruft dort an und geratet an Igor. Überflüssig zu erwähnen, dass der neue Kollege den Job nicht lange behielt. Aber wir kommen der Sache jetzt näher. Während der Fliesenleger, der kein Fliesenleger war, seinen Job noch halbwegs auf die Reihe bekam, war Igor ein Totalausfall.

Ich hab nichts gegen Quereinsteiger*innen – im Gegenteil. Es gibt Menschen, für die learning by doing genau das richtige ist oder die sich autodidaktisch selbst ausbilden. Unser Ausbildungssystem ist zwar Weltklasse, aber auch bürokratisch, inhaltlich überladen und unflexibel.

Ich glaube auch, dass ein intelligenter Mensch eine Sprache „on the job“ lernen kann. Trotzdem denke ich mit Grausen an die chinesische Ärztin im Krankenhaus, die bestimmt sehr qualifiziert war, aber leider die Worte „Verstopfung“ und „Durchfall“ verwechselt und daher die falschen Medikamente verordnet hatte. Mit harmlosen, aber extrem unangenehmen Folgen für den Patienten.

Ob Missgeschick oder Inkompetenz – all das wird zunehmen. Vielleicht wird es irgendwann so sein wie in den USA, wo der Handwerker nicht zum Termin, sondern irgendwann auftaucht, dazu noch ohne jegliche Ausbildung und ohne Werkzeug (!), sich das Problem interessiert anschaut und dann unverrichteter Dinge wieder geht. Alexander Osang hatte das mal in einer Geschichte über seine Zeit in New York City beschrieben. Damals war ich schockiert. Es war mir neu, dass es in anderen Ländern kein Ausbildungssystem gibt, sondern die Leute halt das machen, was sie können – oder auch nicht. Bald wird es bei uns auch so sein.

Dreistigkeit

Eine spürbare Folge des Fachkräftemangels ist auch, dass die Menschen immer dreister werden. Sie wissen einfach, dass sie quasi unkündbar sind. Ich hatte neulich den Fall, dass ein Rettungssanitäter meinte, es wäre „eigentlich 10 Euro wert“, dass er die Patientin die Treppe heruntergetragen hatte. Also, ich bin gern großzügig, wenn jemand sich extra Mühe gibt, aber Trinkgeld geben nur dafür, dass jemand schlechtgelaunt seinen Job macht und dann auch noch Trinkgeld fordert? Nö.

Der Fahrer einer Reinigungsfirma, dessen LKW vor dem Krankenhaus parkte und mir die Ausfahrt aus dem Behindertenparkplatz (!) versperrte, antwortete auf meine Bitte, er möge doch wegfahren, seelenruhig mit „Wenn ick hier fertig bin.“ Kurz überlegte ich, mich bei der Firma zu beschweren, die Telefonnummer war groß auf dem LKW aufgedruckt – aber hat ja alles keinen Sinn, es wird eh keine Konsequenzen für ihn haben. Fahrer werden überall gesucht.

Tempo

Bei Hotlines geht keiner mehr ans Telefon, E-Mails werden zwei Wochen später beantwortet. Neulich habe ich 8 (!) Tage auf einen wichtigen Brief gewartet – innerhalb Berlins. Vermutlich gab es niemanden, der ihn zustellen konnte. Gefühlt ist seit der Pandemie alles zäher geworden. Ich weiß nicht, ob es nur mir so geht.

Teilzeit & Co.

Auch auf Seiten der Beschäftigten hat sich einiges verändert. Wer es sich leisten kann, arbeitet Teilzeit. Absolut verständlich, aber das hilft dem Fachkräftemangel natürlich gar nicht. Wer Vollzeit arbeitet, macht viele Pausen oder erledigt zwischendurch andere Dinge. Neulich sagte mir eine Teilnehmerin an meinem 8-stündigen Seminar: „Durch das Homeoffice bin ich es gar nicht mehr gewohnt, 8 Stunden am Stück durchzuarbeiten.“ Geht mir genauso!

Jagd auf Talente

„War for talents“ sagt man ja nicht mehr in Zeiten, in denen der Krieg uns immer näher kommt. Aber Unternehmen jagen den Bewerbenden hinterher, dass es nur so eine Art hat. Bei Seniorenheimen habe ich das Gefühl, dass die fast nur noch mit Recruiting beschäftigt sind. Das ist mittlerweile deren Hauptaufgabe – und das Tagesgeschäft läuft so nebenbei. Fast jeder Handwerkerbus trägt den Schriftzug „Kolleg/innen gesucht!“ Überraschend häufig gegendert, denn die Arbeitsmarktreserve Frauen soll auch angesprochen werden.

Eine Freundin hatte einen Job abgesagt, wurde aber fast schon angefleht, trotzdem zum Vorstellungsgespräch zu kommen – für den Talentpool, vielleicht für später mal. Andere streichen alles Unliebsame aus dem Arbeitvertragsentwurf und das geht so durch.

Fakt ist: Der Fachkräftemangel geht nicht einfach weg. Ich jedenfalls fange langsam an zu begreifen, was das im Alltag bedeutet. Und auch wenn ich nicht dafür zuständig bin, gesellschaftliche Probleme zu lösen, habe ich ein paar Ideen, die über den reinen Import von Fachkräften hinausgehen. Denn das ist zwar eine legitime Lösung, verlagert aber das Problem nur. Fachkräfte aus der Ukraine oder den Philippinen fehlen dann im eigenen Land. Wir lösen unsere Problem auf Kosten anderer. Das kann es nicht sein.

Und nun?

Ich hätte drei Vorschläge, die helfen könnten, die Gesellschaft ingesamt resilienter gegen den Fachkräftemangel zu machen.

1. Berufsausbildung mit Abitur
In der DDR gab es das Modell schon und war sogar ziemlich beliebt. Ich würde das verpflichtend einführen. (Einige Bundesländer experimentieren schon damit.) Du willst studieren und brauchst dafür ein Abi? Fein, dann mach parallel eine Berufsausbildung in einem systemrelevanten Beruf. Danach gibt es zwei Wege: Entweder findet man Gefallen an dem Job und bleibt erst mal dabei – dank Abi besteht ja immer noch die Möglichkeit, sich später weiterzuqualifizieren.

Oder man geht direkt ins Studium, kann es sich über einen qualifizierten Studentenjob easy finanzieren und entlastet damit die jeweilige Branche. Dieses Modell führt auch dazu, dass praktische Kompetenzen stärker in der Bevölkerung verbreitet werden. Leute können viele Dinge selbst erledigen und brauchen seltener Handwerker*innen oder pflegerische Dienstleistungen. Womit wir bei Punkt 2 wären:

2. Selbst ist die Frau
Viele Dinge kann man selbst erledigen, wenn man weiß wie. Ich war ja schwer beeindruckt zu lesen, dass Sonya Kraus (ja, die Moderatorin) ein totaler Heimwerkerfreak ist und ein komplettes Haus selbst saniert hat. Genial! Volkshochschulen, Youtube und Baumärkte könnten die Leute auf einem Gebiet, das sie interessiert, so fit machen, dass frau (bzw. man) vieles selbst machen kann.

3. Bullshitjobs reduzieren
Oft denke ich an den Ex-TV-Moderator Tobi Schlegl, der endlich etwas Sinnvolles machen wollte und zum Notfallsanitäter umschulte. Aus vielen Gesprächen weiß ich, dass Bullshitjobber oft verzweifelt auf der Suche nach Sinn sind. Das gilt auch immer noch für mich. Mit dem Psychologiestudium komme ich dem Sinn hoffentlich etwas näher, aber auch da habe ich meine Zweifel …

Manchmal überlege ich ernsthaft, Teilzeit (hehe) in einen handfesten Job zu gehen, ans Fließband der Schokoladenfabrik oder als Straßenbahnfahrerin. Einfach so für den Sinn und als Dienst an der Gesellschaft. Ich meine, irgendwer muss diese Jobs ja machen. Vielleicht wird man irgendwann sowieso zwangsverpflichtet: Statt „Stasi in die Produktion“ hieße es dann „Marketingleute in die Pflege“ oder „Versicherungsvertreter*innen ins Handwerk“. 😛 Bullshitjobs zu reduzieren, wäre übrigens auch gut fürs Klima, denn sie produzieren eine Menge sinnloses CO2.

Alles nur so Ideen, aber wer weiß …

Foto von Tim Mossholder auf Unsplash

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2 Kommentare

  1. Pierre

    Ich wünsche mir: „Influencer in die Pflege!“
    Den Verlust der Influencer würde keiner bemerken. 😉

    • Kann man so nicht sagen. Mir haben Influencer während Corona erheblich die Laune erhöht. Viel besser, als manches Fernsehprogramm (Corona-Nachrichten in Dauerschleife 🤢 ). Manche haben einen beim Sport begleitet. Der Erfolg der Influencer spricht ja irgendwie für sich – obwohl die ja keiner guckt 😉

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