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Schon wieder Krieg

Es ist Krieg in Europa. Viele haben vergessen, wie sich das anfühlt. Sie haben vergessen, dass Putins Leute schon seit 2014 in der Ostukraine ihr Unwesen treiben. Wer von „75 Jahren Frieden in Europa“ faselt, hat den Jugoslawienkrieg verdrängt. Der letzte Krieg, wenn auch „nur“ am Rande Europas, war der Drohnenkrieg der Aserbaidschaner gegen die Armenier*innen in Bergkarabach. Ach, und dann gibt’s ja noch Syrien – naja, ist ja auch weit weg. Auf Wikipedia gibt es eine Liste aller aktuellen Kriege, fein säuberlich nach Anzahl der Opfer sortiert.

Der Angriffskrieg gegen Bergkarabach 2020 war der erste und, wie ich damals dachte, auch letzte Krieg, den ich quasi live mitverfolgt habe – vor allem in den sozialen Medien, denn die offiziellen Medien hielten sich vornehm zurück. Oder sie teilten unkritisch aserbaidschanische Propaganda.

War ja auch irgendwie messy, das Ganze, schwer zu durchschauen. Eine kleine Republik, die sich 1991 selbst für unabhängig erklärt hatte und dabei auf historische Gebietsansprüche, Pogrome in der Vergangenheit und die Unterdrückung durch das aktuelle Regime verwies. Völkerrechtlich schwierig.

Da wollte niemand so richtig Stellung beziehen – auch wenn in diesem Krieg insgesamt 9.000 Menschen ihr Leben verloren, darunter viele 18-, 19-jährige Jungs. 100.000 Menschen mussten aus Bergkarabach fliehen. Die EU zeigte sich „besorgt“ – ein Running Gag, der sogar einen eigenen Twitter-Account mit dem Namen „Is EU concerned?“ bekam. Eingegriffen hat niemand, außer Erdogan, indem er dem aserbaidschanischen Aggressor mit Offizieren und Bayraktar-Drohnen unter die Arme griff. Verzweifelt riefen die Armenier*innen die Weltgemeinschaft um Hilfe – niemand reagierte. Am Ende erbarmte sich ausgerechnet Putin und vermittelte einen zweifelhaften Frieden.

Wie gut, dass es jetzt so eindeutig ist: Putin ist der Böse, die Ukraine sind die Guten. Fast schon Schwarz-Weiß. So sollte es auch sein, wenn ein Land ein anderes überfällt. Ich bin zu 100 % auf der Seite der Ukraine. Einerseits freue ich mich, wenn in Berlin 500.000 Menschen auf die Straße gehen, um gegen den Krieg zu demonstrieren. Gegen Krieg zu sein, das sollte selbstverständlich sein. Das ist vielleicht (und Gottseidank!) der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich diese Gesellschaft noch einigen kann. Das schweißt zusammen, mindestens genauso gut wie das gemeinsame Feindbild.

Andererseits bin ich vielleicht etwas, nun ja, desillusionierter als andere, da ich jetzt schon den zweiten Krieg innerhalb von zwei Jahren zumindest virtuell miterlebe.

Wieder merke ich: Krieg putscht auf. Man ist heiß auf News, will sich einen Überblick verschaffen: Was passiert da gerade? Die Emotionen kochen hoch. Man befindet sich in einem fiebrigen Zustand der Dauererregung, der einen Dinge tun oder akzeptieren lässt, die man bei völliger Klarheit ablehnen oder zumindest hinterfragen würde.

So ertappt man sich plötzlich dabei, die Fahne eines Landes zu schwenken, über das man eigentlich nichts weiß. Oder einen Präsidenten zum Superhelden zu stilisieren, über den man ebenfalls nichts weiß – außer, dass er ganz sympathisch rüberkommt und offenbar momentan einen guten Job macht. Oder man findet plötzlich Aufrüstung und Waffenlieferungen gut. Ich muss mich da selber immer zurückhalten, da ich mich solche Dinge sehr mitnehmen – im wahrsten Sinne des Wortes. Es ist wie eine Welle, die einen mitreißt.

Und man will gewinnen. Solange es eine Chance auf den Sieg gibt, erscheint Krieg nur halb so schlimm. Auf einmal liket man Videos, in denen Panzer beschossen werden, lacht über die Fehler des Feindes (diese Deppen, total planlos!) und feiert die Held*innen der, ähm, eigenen Mannschaft. Aber das hier ist kein Fußballspiel. Ein menschlicher Körper kann noch so willensstark sein – einer Patrone kann er nicht widerstehen.

Man hofft, dass der Krieg endlich vorbei ist, denn wenn man erst gewonnen hat, wird alles besser. Aber mit dem Rauch wird sich auch die Euphorie verziehen. Ein Krieg kennt keine Sieger – wer weiß das besser als die Deutschen. Am Ende bleiben nur Tod, Verwüstung, traumatisierte und flüchtende Menschen, zerstörte Leben. Ob in der Ukraine, in Bergkarabach, Syrien oder anderswo.

Es ist zum Verzweifeln: Immer wieder kann ein einzelner Mann einen Krieg anzetteln und Zigtausende, ja Millionen Menschen ins Verderben stürzen. Niemand kann es verhindern, viel zu selten wird der Kriegsverbrecher bestraft. Schon werden erste Stimmen laut, man müsse Putin einen Ausweg anbieten, eine Möglichkeit, sich „gesichtswahrend“ aus der Affäre zu ziehen. Sogar die Weltpolitik dreht sich um gekränkte Männeregos.

Meine große Hoffnung ist, dass die russische Bevölkerung aufsteht und sich gegen den Krieg, gegen ihren Präsidenten wendet. Und erkennt, dass sie Opfer von Putins Propagandamaschine geworden ist. Mitunter sind die sozialen Medien auch ganz nützlich.

Der Moskauer Abgeordnete Ilja Jaschin hat seine Landsleute dazu aufgerufen, sich öffentlich der Antikriegsbewegung anzuschließen – ungeachtet ihrer politischen Gesinnung. Er fordert sie auf, sich massenweise zu organisieren, zu protestieren, ihre Abgeordneten zu kontaktieren. „An Putins Händen klebt Blut. Dieser verbrecherische Krieg wurde unter einem Vorwand begonnen“, sagt er in seinem Video.

Die Hoffnung stirbt mal wieder zuletzt.

Foto: Lydia Krüger

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