Meine Faszination für Sekten ist ungebrochen. Ich ziehe mir fast jede Doku dazu rein, und Netflix & Co. bieten wirklich eine ganze Menge zu dem Thema. Alle Sekten sind in ihren Grundprinzipien gleich und doch verschieden. Ich glaube, was mich an diesem Thema fasziniert, ist die Tatsache, wie aus selbstständig denkenden, in Freiheit aufgewachsenen Menschen Roboter werden, die ihrem Anführer blind folgen – in der Regel ins Verderben. Da wirken psychologische Mechanismen, vor denen letztlich kein Mensch gefeit ist, egal für wie aufgeklärt und schlau er sich hält.
An der Doku „Wild Wild Country“ (Netflix) über die Bhagwan/Osho-Sekte zum Beispiel hat mich gefesselt, wie das ursprünglich relativ harmlose Ziel, eine bessere Welt in Form einer eigenen Stadt aufzubauen, in Spionage, Waffengewalt und sogar einen Mordversuch mündete. In Kreuzberg gehörte es ja eine Zeitlang im esoterischen Milieu fast schon zum guten Ton, Sannyasin gewesen zu sein. Ich habe mich immer dagegen gewehrt, diesen Kult zu verharmlosen – und wer diese Doku gesehen hat, wird mir Recht geben.
Auch die Doku über Bikram-Yoga (Netflix) bietet einen Blick in Abgründe: Wie in vielen Sekten werden Hierarchien vor allem aufgebaut, damit irgend so ein komplexbeladener Dude Machtfantasien, psychische und sexuelle Gewalt ausleben kann. Die ganze Yoga-Szene hat seit der Pandemie bei mir massiv an Ansehen verloren und diese Doku setzt zumindest einem Teil der Yoga-Industrie die Krone der Heuchelei auf.
Mein absoluter Favorit in punkto Absurdität ist die Doku über die Buddhafield-Sekte, „Holy Hell“ (Amazon Prime). Ihr Anführer Jaime Gomez trug nichts als ein knappes Badehöschen und Kayal und sah damit aus wie ein Pierre-et-Gilles-Model (die Älteren unter uns erinnern sich 😛 ). Er gab sich, Achtung!, den sexy Guru**-Namen „Andreas“ und behauptete, Gott zu sein. Irgendwie schaffte er es TROTZDEM 😀 , eine Menge Leute in seinen Bann zu ziehen und ihnen Erleuchtung zu versprechen. Damit sie seinen ästhetischen Vorstellungen entsprechen, setzte er einige Follower auf extreme Diäten und zwang sie zu kosmetischen Operationen. Frauen wurden zu Schwangerschaftsabbrüchen genötigt.
Auffällig ist, wie unglaublich sympathisch, gutaussehend und intelligent seine Anhänger*innen waren. Das sind extrem nette Menschen, die man wirklich gern als Freund*innen hätte. Viele von ihnen wurden psychisch und sexuell missbraucht und sind verarmt, weil sie ihr ganzes Geld diesem Typen in den Rachen geworfen haben, der es für seinen extravaganten Lifestyle „brauchte“.
Einer meiner persönlichen Höhepunkte war, dass die Anhänger*innen von „Andreas“ mehrmals pro Woche drei bis vier Stunden Ballett-Training absolvieren mussten (an dieser Stelle wäre ich als Modell „nasser Sack“ spätestens raus gewesen 😀 ). Die daraus resultierenden Aufführungen dienten nur dem Zweck, Hobbytänzer „Andreas“ als Dancing Queen zu featuren und wurden niemals einem außenstehenden Publikum gezeigt. Ach ja, ein Theater mussten seine Follower auch noch für ihn bauen.
An allen drei Sekten wird ein bedenklicher Trend deutlich: Sekten sind immer weniger darauf angewiesen, in der Fußgängerzone Menschen anzusprechen, die sich in einer Notlage befinden oder sonst irgendwie instabil sind. Nein, ihre Anhänger*innen laufen ihnen freiwillig zu: Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, nach Erleuchtung, Gemeinschaft und einem noch besseren Selbst werfen sie alles weg, was ihnen einmal lieb und teuer war: Beziehungen, Familie, Jobs, Hobbys, ihre Gesundheit.
So faszinierend Sekten auch sein mögen: Nichts an ihnen ist witzig. Sie zerstören Leben – mal buchstäblich, mal im übertragenen Sinne. Buddhafield-Follower berichteten, sie hätten ihre Identität verloren und die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen. Ihr Wille sei gebrochen bzw. gesteuert worden. Andere nannten die Sekte ein „emotionales Gefängnis“.
Von der Firma zur Sekte
Wenn Ihr denkt, bis hierhin war alles extrem übel, dann habt Ihr Recht. Aber das war längst nicht alles. Ich führe Euch nur vorsichtig an eine Gruppierung heran, die sogar mir als abgehärteter Beobachterin der Sektenszene den Mund offen stehen ließ: NXIVM (sprich: Nexium).
Ich habe zwei Dokus darüber gesehen, „The Vow“ (WOW) und „Seduced“ (Amazon Prime) und sogar das Buch der Exfrau des Anführers (Toni Natalie: The Program) gelesen, weil ich das ganze Geschehen kaum glauben konnte.
Das Verrückte daran: NXIVM war eine Firma. Nun gibt es viele Sekten, die vor allem dazu da sind, Geld für den Anführer zu scheffeln, und daher irgendwelchen legalen oder illegalen Geschäften nachgehen. Aber die NXIVM Corporation war ganz offiziell ein Unternehmen, das Seminare zur Selbstfindung offerierte. Die Coaching-Methode von Anführer Keith Raniere nannte sich „Executive Success Program“ und sollte das „menschliche Potenzial entwickeln“. Klingt doch erst mal ganz gut, oder?
Wie so oft wiederholte sich auch bei NXIVM das bekannte Muster: Durch manipulative Techniken demontierte Raniere die Persönlichkeit seiner Anhänger*innen, zwang sie, immer mehr Geld zu erwirtschaften bzw. beutete die enormen Vermögen wohlhabender Follower aus. Es gab psychische und sexuelle Gewalt, Mordversuche und tatsächliche Morde im Umfeld der Sekte, die bis heute nicht aufgeklärt sind. (Das ist jetzt eine extrem verknappte Zusammenfassung der unheilvollen Ereignisse.)
Raniere bediente sich für sein Geschwurbel bei verschiedenen anderen „Lehren“ (u. a. Scientology, EST und Antroposophie) und sogar beim Judo mit seinen farbigen Gürteln: Die Anhänger*innen arbeiteten sich über verschiedene Hierarchiestufen nach oben, indem sie immer mehr Kurse verkauften und neue Coaches anwarben, und durften als Belohnung verschiedenfarbige Schärpen tragen. Man staunt, dass so etwas bei erwachsenen Menschen funktioniert, aber das tut es. Und warum auch immer muss ich gerade an die Fabrik irgendwo in Deutschland denken, in der die Arbeitenden farbcodierte Overalls tragen – je nach Hierarchiestufe.
Obwohl immer wieder verstörende Einzelheiten aus der Sekte bekannt wude, flog der Laden erst auf, als Raniere völlig abdrehte: Er gründete eine Unterorganisation für Frauen („DOS“), ließ sie dort von anderen Frauen als Sklavinnen abrichten und ihnen seine Initialen im Intimbereich einbrennen (!). Wie so oft waren es Recherchen von mutigen Journalist*innen und Aussagen einzelner Aussteiger*innen, die dem Sektenführer letzlich zum Verhängnis*** wurden.
Parallelen zur Arbeitswelt
Warum erzähle ich das alles? Während ich tagelang die sehr ausführlichen Dokus über NXIVM anschaute, fielen immer wieder Schlagworte, die mir bekannt vorkamen. Ich machte mir Notizen:
- zu den Guten gehören/Gutes tun
- Ängste besiegen
- über seine Grenzen hinausgehen („Komfortzone“)
- Verletzlichkeit zeigen
- an sich arbeiten
- persönliches Wachstum
- das Richtige tun
- sich verändern müssen
- etwas (Gutes oder Schlechtes) verdient haben
- immer etwas Neues/ständiger Wandel
- Stärke zeigen
- Loyalität zeigen
- Purpose
- Bestimmung
Mithilfe dieser Phrasen wurden die Sektenmitglieder immer tiefer in die psychische Abhängigkeit gebracht. Das sind alles Formulierungen, die heutzutage in keiner HR-Strategie fehlen. Da ich viel in dem Metier unterwegs bin, fällt mir das immer mehr auf.
Neuerdings wird sogar Selbsterkenntnis verlangt, zumindest von den Führungskräften. Das ist ja richtig und gut, ich kann das an sich nur begrüßen. 😉 Die Frage ist, ob es wirklich die Aufgabe von Unternehmen sein kann, in die Persönlichkeitsentwicklung ihrer Angestellten einzugreifen. Ist das nicht ziemlich übergriffig? Hier liegt außerdem ein großes Missbrauchspotenzial – vor allem, wenn nicht psychologisch ausgebildetes Personal dafür engagiert wird.
Es werden Grenzen ins Private verwischt. Und wenn mir durch die Beschäftigung mit Sekten irgendwas klar geworden ist, dann dies: Grenzen gaaaanz langsam und stetig immer weiter zu verschieben ist eine grundlegende Manipulationstechnik. Niemand würde ja in eine Sekte gehen, wenn deren Abgründe sofort erkennbar wären. Nee nee, am Anfang gibt’s das berühmte „Lovebombing“, alles ist mega – und ab da geht es stetig bergab.
Eine weitere Technik, die Raniere und seine Mittäterin Nancy Salzman meisterhaft beherrschten, ist das Umdeuten, also Neudefinieren von Wörtern. Zum Beispiel ist Wandel („Change“) in Unternehmen immer positiv besetzt. Das kann man so sehen, aber Veränderung hat auch ihren Preis. Sie kostet Menschen sehr viel Anpassungsfähigkeit und Energie, die sich auch irgendwann erschöpft. Ich erinnere mich, wie meine Oberhäuptlinge einmal eine Umstrukturierung planten – dabei war die letzte erst sechs Monate her. Und schon nach der ersten Reorga waren Mitarbeiter*innen vor Stress kollabiert. Dennoch wurde weiter davon geredet, wie toll Veränderung doch sei.
Selbstoptimierung im Job
Ein weiterer Punkt: Die verordnete Selbstoptimierung in Unternehmen setzt bei den Personen an. Das impliziert, dass der Mensch das Problem ist – und nicht etwas die Organisation. „Mach doch mal ein Zeitmanagement- oder Konfliktmanagement-Seminar, wenn du so gestresst bist!“, heißt es dann. Das verlagert nicht nur die „Schuld“ an allen arbeitsbezogenen und psychischen Problemen auf das Individuum, sondern zäumt das Pferd auch von hinten auf.
Ich habe nämlich im Studium der Arbeits- und Organisationspsychologie das TOP-Prinzip kennengelernt: Technik – Organisation – Person. Das bedeutet, dass Optimierungen immer zuerst auf der technischen Ebene (Verbesserung der Arbeitsbedingungen, z. B. Lärmschutz, Licht, Frischluft und Temperatur, funktionierende Software), dann auf der organisatorischen Ebene (Aufgabe, Arbeitszeit, Pausen, sinnvolle Prozesse) und erst ganz zum Schluss bei der Person (Schulungen, Coachings) ansetzen sollten. Offenbar ist es aber einfacher und billiger, gleich an der Persönlichkeit der Menschen herumzuschrauben.
Zum Schluss lasse ich Euch noch ein paar Sektentechniken da, die man IM ANSATZ auch bei Unternehmen finden kann.
- permanent hohes Erregungsniveau (z. B. durch Stress oder aufputschende Events)
- ständige Geschäftigkeit („Es gibt immer was zu tun …“, nach der Reorga ist vor der Reorga)
- geschlossenes System (eigene Kitas, ärztliche Versorgung, Werkswohnungen, Urlaubspensionen, After-Work-Events etc.)
- soziale Isolation (durch Überstunden, Schichtarbeit, neu in der Stadt sein, Kolleg*innen sind einzige Freund*innen)
- Schuldgefühle (z. B. bei Krankheit oder Arbeitsverweigerung)
- Komplizentum („Mitgehangen, mitgefangen“)
Insbesondere sehe ich HORG und Start-ups als gefährdet an, aber auch kleinere, familiär geprägte Unternehmen.
Natürlich setze ich Unternehmen nicht pauschal mit Sekten gleich – aber es gibt ungute Tendenzen, z. B. wenn parawissenschaftliche Praktiken wie NLP ganz selbstverständlich in Unternehmen hineinsickern oder Achtsamkeitstechniken zur Produktionssteigerung missbraucht werden. Gerade die Geschichte von NXIVM zeigt durch dessen Doppelexistenz als Firma und Sekte auf bestechende Weise Parallelen auf.
** Das Wort „Guru“ bedeutet auf Sanskrit „Lehrer“, wie ich in Indien gelernt habe, und ist eigentlich ein Ehrentitel für weise Menschen. Deshalb verwende ich hier meistens das Wort „Anführer“.
*** Was wurde aus den Sektenführern?
Bhagwan/Osho bekam eine zehnjährige Bewährungsstrafe, wurde den USA verwiesen und zu einer Geldstrafe von 400.000 US$ verurteilt. Er starb 1990 in Pune. Die Osho-Bewegung existiert weiter und bietet Meditationsretreats an. Seine Schüler leiten Stressmanagementseminare u. a. bei IBM und BMW in den USA.
Bikram Choudhury wurde in den USA zur Zahlung von 7 Mio. $ Schadensersatz wegen sexueller Übergriffe verurteilt. Er entzog sich der Zahlung durch Flucht. Einige der fünf weiteren Anklagen wegen Belästigung und Vergewaltigung wurden durch Vergleiche beendet. Bikram unterrichtet weiterhin Yoga. Zahlreiche Studios tragen noch immer seinen Namen.
Badehosenfetischist Jaime „Andreas“ Gomez hat seine Sekte nach Hawaii verlegt.
Der NXIVM-Gründer und kriminelle Psychopath Keith Raniere wurde zu 120 Jahren Haft und 1,75 Mio. US$ Strafe verurteilt. Auch seine „Führungsriege“ bekam Haftstrafen. Eine Zeit lang führten einige von Ranieres Anhänger*innen erotische Tänze vor seinem Gefängnisfenster auf, woraufhin er verlegt wurde.
PS: Hier noch zwei hervorragende Podcasts über Sekten in Deutschland: „Das Schattenkloster (SZ, €) beschreibt, wie junge Menschen auf der Suche nach Sinn und Gemeinschaft an eine Selbstoptimierungssekte geraten. Der Podcast „Just Love“ (ARD Audiothek) erklärt, nach welchen psychologischen Prinzipien Gruppierungen wie „Bhakti Marga“ funktionieren. Auch Jan Böhmermann hat eine herrliche Sendung darüber gemacht: „Leben wie Gott in Hessen“.
Foto von Timon Studler auf Unsplash
Liebe Lydia, Dein besser informierter Beitrag lässt mich etwas an meinen eigenen Gedanken zweifeln, die in die Richtung gehen: „Ist nicht heute alles Soziale irgendwie sektenförmig – nur dass wir es selber gar nicht so richtig mitkriegen, wenn/weil wir selber drinstecken?“:
https://www.youtube.com/watch?v=mMm6mLjMB4A
Was würdest Du nach Deiner ganzen Sekten-Recherche zu dieser „steilen Generalthese“ sagen?
LG!
Ardalan
Hey hey hey, schön von Dir zu hören und Dich mal wieder zu sehen. Interessanter Gedanke. Auch wenn ich absolut dafür bin, Sekten Sekten nennen zu dürfen: Nicht jede enge, homogene Gruppe ist gleich eine Sekte. In Bubbles haben wir früher auch schon gelebt, z. B. bin ich in einer Diplomatenkinderblase aufgewachsen, die später von den Prenzlberger Ghettokids schmerzhaft zum Platzen gebracht wurde. Der Unterschied ist, dass wir durch Social Media jetzt Zugang zu anderen Blasen bekommen – ob wir wollen oder nicht. Jemand schrieb mal sinngemäß: „Früher hab ich bei Helmut am Kiosk meine Zeitung geholt, ich wusste, dass er Bayern-München-Fan ist und zwei Kinder hat und gut war’s. Heute postet Helmut im Netz seine Einstellung zu allen möglichen Themen und ich lerne Seiten an ihm kennen, die ich eigentlich gar nicht kennen will.“ 🙂 Das hat ja auch was Positives, z. B. bei Frauen und Minderheiten, die sich so Gehör verschaffen können. Es gibt Milieus, es gibt Bubbles, Gruppen mit gemeinsamen Zielen. Parteien haben auch sektenähnliche Züge, z. B. einen gewissen Personenkult, aber letztlich ist das Spektrum an Einstellungen und Zielen auch innerhalb einer Partei ziemlich breit gestreut. Das überrascht mich selbst immer wieder, wie viel Platz für Individualismus da noch ist. Und Parteien arbeiten mitunter bemerkenswert konstruktiv zusammen, auch das finde ich eher untypisch. Letztlich würde ich die Grenze zur Sekte da ziehen, wo ein Schaden für die Mitglieder und/oder das Umfeld entsteht: finanziell, psychisch, physisch, sozial, in puncto Freiheit und Selbstbestimmung.
Danke Dir für Deine Antwort! 🙂 – Sekten wären also dann nur offene Ausbeutungsgemeinschaften, in denen die Energie von unten nach oben verteilt wird und in denen unser Hunger nach Selbst-Bestätigung ausgenutzt wird. Da wäre ich dann auch sofort dabei, dass das auch für viele Unternehmen eine fast unwiderstehliche Versuchung ist, diese psychische Gegebenheit nicht auszubeuten. Man könnte sagen: Es ist schwer für Unternehmen, keine Sekte zu sein oder zu werden.
Dass wir über das Netz Zugang zu anderen Milieus als unserem eigenen bekommen, würde ich allerdings vehement bestreiten wollen, und zwar aus einem sehr menschlichen Grund: Wir können nirgendwo dem/den uns Unliebsamem und Unangenehmem so leicht aus dem Weg gehen wie gerade im Netz: Das uns Genehmere ist immer nur einen Klick entfernt. Was und wer uns zu sehr auf den Sack bzw. auf die Eierstöcke geht, den klicken wir weg. Auch die von uns, die entschiedene Anhänger des Über-den-eigenen-Tellerrand-Schauens sind, halten das beim näheren Hinsehen nur sehr begrenzt durch. Am Ende landen wir immer wieder in unserer eigenen Blase. Denn es ist einfach viel viel angenehmer mit Menschen zu tun zu haben, mit denen man viele Voraussetzungen und Gegebenheiten selbstverständlich teilt, so dass man nicht immer wieder neu bei 0 anfangen muss oder sich vermeintlich Ist-doch-Klares erst erarbeiten muss. Und die unsere eigenen liebgewonnen Wahrheiten gerade nicht challengen, sondern bestätigen. Und wir alle hungern nach Bestätigung, danach dass uns andere Menschen spiegeln, dass wir im großen und ganzen richtig und ok sind. Das kriegen wir viel eher von Menschen unseres eigenen Milieus als von Menschen anderer Milieus. Kurz: Es gibt kein Entkommen aus der eigenen Blase. Für niemanden.
M.E. bildet sich das auch über verschiedene Medienkanäle sehr stark ab: Jedes Milieu hat seine eigenen Medien. Und ja: Auch das ist nicht erst seit gestern so. Es spricht nur stark dagegen, dass Medien irgendetwas Vermittelndes oder Verbindendes für uns haben können. Medien sind eher stimmiger Ausdruck unserer gegebenen Getrenntheit. Medien bringen uns also nicht auseinander. Das sind wir ohne sie auch schon. Sie verbinden uns aber auch nicht. Das können sie einfach nicht leisten.
Zu Parteien, die ich als ausgesprochen problematische Institutionen einstufe, würde ich sagen: Wenn es hart auf hart kommt, setzt sich dort – aus guten Gründen – immer die Parteidisziplin durch, und vorbei ist’s mit der ursprünglichen internen Vielfalt. Parteien, bei denen das anders ist, haben im Kampf der Parteien große Nachteile: Sie sind leicht intern spaltbar und nach außen deswegen relativ kraftlos. Letztlich sind Parteien (Wahl-)Kampfverbände, die nicht ohne Grund hierarchisch organisiert sind, mit einem letzt-instanzlichen Ober-Sticht-Unter-Prinzip. Das spricht sehr gegen die Organisation des Politischen via Parteien. Konstruktive Zusammenarbeit zwischen Parteien kann ich nicht erkennen. Wenn, dann ist sie extrem brüchig, weil wir ja qua System Parteien dazu zwingen, „einander eins auswischen“ zu müssen und den anderen möglichst schlecht dastehen zu lassen, um selber besser dazustehen im ewigen Kampf des Stimmenfangs. Nach der Devise: „Wir selber sind vielleicht nicht rundum gut und vertrauenswürdig, aber die anderen: Die sind noch viel schlimmer! – Wählt uns, um wenigstens die schlimmen anderen Parteien zu verhindern!“ Alle Parteien sind zur Arbeit mit diesem Negativ-Prinzip (Abwehr der bösen Anderen) gezwungen. Parteien, die versuchen, rein positive Politik zu machen, hören nach kurzer Zeit aus gutem Grund damit auf: Weil es für sie nicht funktioniert. Es gibt zwar immer wieder herausragende positiv-Beispiele auf kommunaler Ebene, aber die kämpfen einen Abnutzungskampf, bis sie selber im Spiel der Negativ-Motivationen zerrieben werden. Viele KommunalpolitikerInnen, die ich kennenlernen durfte, sind hochfrustriert. Und ich würde sagen: Die offen Frustrierten sind gerade die Besten. Nur wählt halt niemand jemanden, der offen frustriert ist. Es gehört zum Jobprofil eines wählbaren Politikers als jemand aufzutreten, „der einen Plan hat“ und den Optimismus zu verbreiten, dass mit ihm an den Rudern der Macht vieles besser wird oder besser bleibt. Frustration am System passt da nicht ins Bild, deswegen wird sie höchstens nicht-öffentlich geäußert, in geschützten Räumen.
Aber ich merke: Ich bin da schon zu ideologisch. Ich denke halt mittlerweile alles von der m.E. sehr viel besseren Alternative einer Aleatorischen Demokratie her, die gut ohne Politische Sekten- äh Parteibildung auskommt. 😉