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Die große Vermarktung

„Was würdest du machen, wenn du nicht mehr arbeiten müsstest?“, fragte ich einen Freund. „Ach geil“, meinte er, „dann müsste ich mich nicht mehr auf XING und Linkedin selbst vermarkten.“ Ich glaube, er war selbst überrascht, dass ihm das als Erstes eingefallen ist.

Das mit der Selbstvermarktung kannte ich ja früher nicht. Im Osten haben wir einfach gearbeitet und gut war’s. Ich war 17, als die Mauer fiel und hatte seit meinem 14. Lebensjahr Ferienjobs. Immer schön mein eigenes Geld verdienen – das war mir wichtig. Ich kann mich wirklich nicht erinnern, dass sich da jemand selbst vermarktet hätte. Kann aber auch sein, dass ich einfach zu jung war, um es zu merken.

Dementsprechend naiv war ich bei meinen ersten Jobs im Westen. (Nach der Wende waren alle meine Jobs in Westberlin, im Osten lief ja nichts mehr.) Es dauerte eine ganze Weile, bis ich feststellte, dass es nicht ausreichte, gute Arbeit abzuliefern. Man musste auch noch dafür sorgen, dass es jemand mitbekam.

Gackern lernen

Ich lernte das durch einen Kollegen, der sich jedesmal feierte, wenn er was geschafft hatte und dachte: Okay, so läuft das also. Quasi nicht nur das Ei legen, sondern auch noch lauthals gackern. Meine damalige Naivität treffe ich heute oft wieder, insbesondere bei jungen Frauen – sie glauben, dass gute Arbeit schon gesehen wird. Nee. Leider nicht.

Unter Selbstständigen hat die Selbstvermarktung natürlich noch mal eine ganz andere Bedeutung. Trotzdem tu ich mich schwer damit. Das Understatement liegt mir näher – auch wenn ich viel mehr verdienen könnte, wenn ich einen auf dicke Hose mache würde. „Seit ich mich Consultant nenne, kann ich höhere Honorarsätze nehmen“, meinte eine Bekannte mal mit einem breiten Grinsen.

Vor einiger Zeit habe ich einen Auftrag nicht bekommen. Als ich dann noch mal mit dem (Nun-doch-nicht-)Kunden telefonierte, war mir schnell klar, dass der sich was aufschwatzen lassen hat. Von so nem Schaumschläger. Was der als – vermutlich teures – Extra angeboten hatte, hätte ich automatisch mitgemacht und kein Wort darüber verloren.

Linkedin: Marktplatz der Eitelkeiten

Auf Linkedin kann man die Auswüchse der Selbstvermarktung finden, auch optisch. 😛 Manchmal lerne ich Leute im echten Leben kennen und sehe erst später ihre Fotos auf XING und Linkedin. Da sehen die aus wie Marsmenschen – man erkennt sie gar nicht wieder. Es gibt ein offizielles Ich, das wenig mit der Realität zu tun hat. Und damit meine ich nicht nur die Frisur, sondern das ganze Styling, den Habitus, den Blick. Da regt sich gleich wieder meine Business-Allergie.

Apropos Linkedin, das ist ja wohl die große Bullshitjob-Parade, achtet mal auf die Berufsbezeichnungen. 😀

Eine Zeit lang hatte ich die ganze Vermarkterei so verinnerlicht (hab’s ja auch mal studiert, hehe), dass ich so einen Vermarkter-Blick entwickelt habe: Wenn ich irgendwas gesehen habe, was mir suboptimal erschien, entwarf ich sofort im Kopf ein Marketing-Konzept. Und dann hörte ich plötzlich damit auf – und das kam so:

Der Hundesalon

Vor Jahren war ich mal bei einer Hundefrisörin, einer Japanerin. An ihrem Laden war aber nichts Japanisches, außer vielleicht, dass er recht spartanisch eingerichtet war. 😉 Nun hatte ich gerade eine Doku gesehen, was das für ein Kult ist in Japan mit den Hundefrisuren. Und sofort dachte ich mit meinem Netflix-Halbwissen: Da könnte man doch was richtig Tolles draus machen. Hier ein Manga und da ein paar witzige Cupcakes mit Hundegesicht, lustiger pastellfarbener Hunde-Krimskrams. Heute frage ich mich:

Authentisch ist an so einem Konzept gar nichts. Meine Vorstellung von einem japanischen Hundesalon ist wohl in etwa so japanisch wie ein Hofbräuhaus in Tokio bayrisch ist. Die echten japanischen Hundesalons sehen wohl eher so aus wie auf dem Bild oben.

Ein Wunschtraum

Eine Farm in der Toskana schickt mir immer Kataloge zu. Die haben sich komplett auf deutsche Touris spezialisiert und bedienen unsere Vorstellung von Bella Italia – inklusive rotkarierter Tischdecken. „Italokitsch“, schnaubte meine italienische Freundin verächtlich.

Wusstet Ihr, dass man heutzutage sogar ein komplettes „Original“ Irish Pub aus dem Katalog bestellen kann? Oder ein fertig eingerichtetes „französisches“ Café. Oder einen Klamottenladen mit dem abgefuckten Charme einer alten Fabrik. (Ich weiß das, weil ich es mal recherchiert habe. Es gibt Designfirmen, die stellen einem so einen Laden fix und fertig hin – Flair inklusive.) Man muss sich diesen Irrsinn mal vorstellen: Da wird ein abgefuckter Berliner Altbau sorgfältig saniert, um dann einen künstlich abgefuckten Laden da reinzubauen. Das ist dann der Berlin vibe. Hipster und Touris wissen es nicht, aber der echte Berlin vibe trifft einen morgens um sieben in der vollen S-Bahn. 😛

Damals bin ich gar nicht drauf gekommen, dass der konzeptlose japanische Hundesalon vielleicht gerade deshalb cool sein könnte, weil er es nicht ist. Uncool is the new cool, sag ich ja immer, seit ich die 40 überschritten habe.

Im Übrigen war der Salon gar nicht auf meine tollen Ideen angewiesen. Wenn es eine Boombranche in Berlin gibt, dann sind es Hundesalons – die sind auf Monate ausgebucht, ganz ohne Vermarktung. Das sollte uns zu denken geben.

Photo by Chun Yeung Lam on Unsplash

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