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Filmkritik: Kognitive Dissonanz bei der BILD-Zeitung

Bisschen late to the party, aber ich habe vor Kurzem die BILD-Doku auf Prime gesehen. Ihr Titel „BILD. Macht. Deutschland?“ ist genauso unangenehm wie die ganze Doku. Das Filmteam hat die BILD-Redaktion ein Jahr lang begleitet, völlig unzensiert. Zensur wäre aber auch gar nicht nötig gewesen, denn das Filmteam war wohl komplett verzaubert von BILD. „Das ist doch ein Werbefilm für die BILD-Redaktion“, dachte ich anfangs irritiert. Kritische Fragen, Konfrontation mit Fakten, journalistische Einordnung? Fehlanzeige.

Die BILD-Leute werden mit einer derartigen Unterwürfigkeit behandelt, als hätte die Zeitung noch die Bedeutung, die sie früher einmal hatte und die sie selbst immer noch glaubt zu haben. Dabei ist ihre Auflage im stetigen Sinkflug, das Online-Angebot und neuerdings das unselige BILD TV sollen die wegbrechenden Einnahmen kompensieren. In der Doku wird sogar öfters angedeutet, dass es für die Zeitung ums Überleben geht.

Ich muss dazu sagen, dass ich schon als Teenager im Osten das BILD-Buch von Günther Wallraff gelesen hatte und die Zeitung seitdem innig hasse – bis heute. Ich habe sie nie freiwillig gelesen und war total entsetzt, als ich bei Pro 7 feststellen musste, dass die BILD-Zeitung in unserer Redaktion Standardlektüre war und als Leuchtturm galt, an dem wir uns thematisch ausrichteten. „Die BILD sagt uns, wie das Volk tickt“, halte ich für einen der größten Irrtümer in deutschen Redaktionen. Die BILD beutet die niedersten menschlichen Instinkte der einfachen Leute aus. That’s it, that’s the trick.

Journalismus, der Leiden schafft

Aber zurück zur Doku: Für mich war das Spannendste, den BILD-Mitarbeiter*innen dabei zuzusehen, wie geschickt sie sich vor der Kamera dafür rechtfertigen, für ein hetzerisches Drecksblatt zu arbeiten. Laut einer internen Mitarbeiterbefragung erzählen 25 Prozent der BILD-Angestellten nach außen ungern, dass sie für BILD arbeiten. Nur jeder Vierte schämt sich?! Immerhin, auch das klang in der Doku durch: Einige von denen scheinen noch Angehörige und Freund*innen mit moralischem Kompass zu haben, die ihnen gelegentlich die Meinung geigen …

Witzig auch, wie oft die BILD-Leute in der Doku das Wort „Journalismus“ in den Mund nehmen. Als müssten sie sich permanent selbst davon überzeugen, richtige Journalist*innen zu sein. Zu meiner Zeit war legendär, dass die BILD-Leute immer topgestylt zu Terminen aufgelaufen sind – wir reden hier von Sakko mit Einstecktuch oder Seidenkostümchen –, während man die FAZ-Journalist*innen (und die Fernsehleute sowieso) am ausgeleierten Strickpulli erkannt hat. Das ist immer noch so, wie man in der Doku sieht. Heute denke ich, dieses aus-dem-Ei-gepellte Styling ist auch Teil der Selbstvergewisserung, dass man doch einen „sauberen Job“ hat.

Toxische Unternehmenskultur

Im Übrigen gar nicht schlecht, dass ich die Doku erst jetzt gesehen habe – mit dem Wissen, dass ihr Hauptprotagonist, BILD-Chefredakteur Julian Reichelt, wegen sexueller Beziehungen mit Untergebenen gefeuert wurde, schaut es sich gleich viel vergnüglicher. Hier mal eine unterhaltsame Zusammenfassung der Ereignisse:

Bemerkenswert an der Doku ist nicht nur, dass Springer offenbar gemanagt wird wie eine Pommesbude. Im Kleinen („Weiß jemand, wo unsere Reporter sind?“) wie im Großen: Von einer Compliance-Kultur mit klaren Regeln und Konsequenzen bei Fehlverhalten, wie sie in US-Firmen längst Standard ist, kann keine Rede sein.

In der BILD-Doku ist eine toxische Unternehmenskultur zu besichtigen, in der das Patriarchat quicklebendig ist. Männerbünde, wohin man schaut, Duzkumpelei mit der Politik – und ab und zu tauchen ein paar Frauen auf. Wahrscheinlich als schmückendes Element, potenzielle Sexpartnerinnen und vor allem wohl, damit man sagen kann: „Wir haben doch auch Frauen.“

Besonders cringe, um mal das Jugendwort 2021 zu benutzen, war die Szene, wo die Chefsekretärinnen stolz berichten, dass „der Julian“ es immer merkt, wenn ihm H-Milch statt frischer Milch in seinem Latte Macchiato serviert wird, kicher kicher. Ein schönes Beispiel dafür, wie patriarchale Strukturen à la 50er Jahre auch in einer Duzkultur überleben. So weit, so ätzend.

Die Stimme der Lüge

Von Folge zu Folge passierte etwas Seltsames mit mir. Die Intonation, wie die BILD-Leute redeten, diese leise, sonore Stimme, mit der sie die ungeheuerlichsten Dinge so verdrehten, dass sie plötzlich ganz okay klangen, kam mir irgendwie vertraut vor. Ich kannte in meinem beruflichen Umfeld nur eine einzige Person, die mal bei der BILD gearbeitet hatte – und die redete genauso! Bei mir ging immer ein innerer Alarm los, wenn diese Stimme benutzt wurde. Sie hatte etwas Einschmeichelndes, Manipulatives.

Ich bin ja ein Mensch, der hauptsächlich Gefühle als Erinnerungen abspeichert. Ich weiß dann nicht mehr im Detail, worum es inhaltlich ging, kann mich aber erinnern, ob jemand ein gutes oder schlechtes Gefühl bei mir hinterlassen hat. Hier: ein schlechtes Gefühl. Ganz oft, wenn diese Person mich mit ihrer BILD-Stimme von etwas überzeugen wollte, dachte ich: HÄ?? Die Schmeichelstimme wurde benutzt, um eine vermeintlich neue, clevere Perspektive einzunehmen oder Fakten neu zu interpretieren.

Der (mittlerweile Ex-)BILD-Chefredakteur redete genauso. Viele der BILD-Leute schlugen diesen Tonfall an, wenn sie wieder mal damit beschäftigt waren, ihre „journalistische“ Arbeit zu rechtfertigen. Oder wenn sie sich sonst irgendwie verbogen. Was Reichelt in den Redaktionssitzungen machte, ging noch einen Schritt weiter. Er verdrehte die Tatsachen so, dass selbst sein hartgesottenes Team mitunter entsetzt war.

BILD kostet von der eigenen Medizin

Während der absurden Hetzjagd der BILD gegen Prof. Drosten wehrte sich dieser mit einem Tweet inklusive Screenshot der E-Mail von BILD – ich habe das damals live auf Twitter mitbekommen. Versehentlich ließ Prof. Drosten dabei die Handynummer des BILD-Reporters Filip Piatov stehen. Die Folge: Piatov bekam massenweise Hassanrufe und -nachrichten.

Keine Frage, ich verurteile das und hoffe, dass die Anrufer juristisch verfolgt werden. So etwas wünscht man niemandem. Aber irgendwie ist das doch auch ein Fall von: BILD-Reporter muss selbst mal einen Schluck von der Medizin nehmen, die er sonst anderen verabreicht.

Schließlich werden die BILD-Zeitung und BILD ONLINE mehrmals pro Jahr vom Presserat gerügt – meist wegen Verstoßes gegen den im Pressekodex vorgesehenen „Schutz der Persönlichkeit“. Konkret heißt es in Ziffer 8: „Die Presse achtet das Privatleben des Menschen und seine informationelle Selbstbestimmung.“ BILD-Reporter Piatov musste nun mal erleben, wie es sich anfühlt, wenn das Privatleben in Form seiner Handynummer öffentlich gemacht wird.

Interessant war, wie sein Chef Reichelt reagierte. Er stellte sich demonstrativ hinter seinen Reporter, griff zum Hörer und rief GANZ OBEN, nämlich bei der Pressestelle der Charité an. Er war ganz empört und engagiert und forderte Fairness für seinen Mitarbeiter. Zwischendurch blickte der König sinnierend aus seinem güldenen Springer-Turm über das von ihm regierte Land … Okay, hier geht gerade meine Fantasie mit mir durch. 😀

Diese Wagenburg-Mentalität, so ein „Wir von der BILD gegen den Rest der Welt, der uns hasst“, schien öfters durch. Sowas kann wirklich einen festen Zusammenhalt bewirken. Man kennt das von tollen Teams, die gegen den autoritären Chef oder die unberechenbare Chefin zusammenhalten müssen.

Kognitive Dissonanz und Schönreden

Während dieser Doku fragt man sich eigentlich die ganze Zeit: Warum arbeitet jemand bei der BILD? Wegen des Geldes vielleicht? Wegen ultrakonservativer Überzeugungen? (Wobei es da schon auch eine Bandbreite bei den Mitarbeiter*innen zu geben scheint.) Wegen der Macht über ganz Deutschland, die der Titel der Doku andeutet? Weil man einen Scheißcharakter hat? Weil man vielleicht insgeheim glaubt, man sei nicht gut genug für richtigen Journalismus?

Durch die Doku ging mir auf, dass viele der BILD-Mitarbeiter*innen sich ihren Job schönreden. Psychologisch gesehen lösen sie damit eine  kognitive Dissonanz auf. Das ist ein unangenehmer Zustand, in dem man zwei widersprüchliche Wahrnehmungen, Einstellungen etc. hat. Die Überzeugung, ein guter Mensch zu sein, und die gleichzeitige Handlung, für ein hetzerisches Drecksblatt zu arbeiten, ergibt z. B. eine kognitive Dissonanz.

Schlau wie der Mensch ist, hat er mehrere Auswege aus dieser unangenehmen Situation gefunden:

  1. Man verändert die Handlung, kündigt also beim Drecksblatt.
  2. Man verändert seine Überzeugung: Entweder findet man sich damit ab, dass man halt ein schlechter Mensch ist, und wird zynisch. Oder man redet sich das Drecksblatt schön. „Journalistische Pflicht“, „Pressefreiheit“ und so. Oder man macht ein bisschen von beidem, damit sich die Überzeugungen einander annähern.
  3. Man ballert sich einfach weg, um das unangenehme Gefühl zu übertönen. Mit Drogen, Alkohol, Sport. Dazu sage ich jetzt mal nichts. Zu meiner Zeit musste man für Events, an denen Journos teilnehmen, beim Catering sowieso die 3- bis 4-fache Menge an Alkohol bestellen. 😉

Außen pfui, innen hui?

Das war also mein – nicht besonders überraschender – Erkenntnisgewinn aus der Doku: Die BILD ist immer noch ein Hetzblatt, dort wird mit Schmeichelstimme gelogen, dass sich die Balken biegen, von Leuten, die sich permanent selbst etwas vormachen.

Deshalb finde ich es so lustig, wenn der neue BILD-Chef jetzt meint, er könne da eine super Unternehmenskultur installieren. Unter der Schlagzeile „Kein Millimeter Machtmissbrauch“ verspricht er „eine Kultur des Respekts“: „… wir werden ein empathisches Miteinander prägen, ohne die für Bild typische Härte – auch in der politischen Linie – nach außen zu verlieren.“ Das würde ja bedeuten, dass die Angestellten intern empathisch und extern fies sein müssten. „Außen hart und innen ganz weich“, wie Grönemeyer singt. Bisschen unrealistisch, oder? 😛

Die sinkende Auflage ist übrigens nicht das einzige Problem der BILD. Es will auch kaum noch jemand dort arbeiten, wie in der Doku erwähnt wird. I wonder why? Jedenfalls habe ich die Hoffnung, dass sich das Problem irgendwann von alleine erledigt: Stell dir vor, es gibt eine BILD-Redaktion und keiner geht hin.

PS: Falls Ihr die Doku nicht sehen wollt, gibt’s hier eine Parodie vom Browserballett. 😉

Photo by Steve Johnson on Unsplash

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2 Kommentare

  1. Pütt Kieker

    „Die BILD beutet die niedersten menschlichen Instinkte der einfachen Leute aus. That’s it, that’s the trick.“ Genau deshalb und genau so funktioniert das System BILD…noch. Die Hauptzielgruppe stirbt langsam weg, aber einfache Antworten gepaart mit Sensatinonsgeilheit bleiben gefragt. Darum wird es Bild auch noch geben, wenn ich in die Gruft fahre, allen Unkenrufen zum Trotz.

  2. Die BILD war immer und ist heute noch untragbar. Die einzige angemessene Reaktion muss sein: ignorieren, nicht kaufen, nicht anklicken.

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