Erst mal ein lustiges Gedicht. Dann die nicht ganz so lustige Story dazu.
Die Bergkönigin
Wer schnauft und ächzt bergauf mit Not?
Es ist die Bergkönigin – schon jetzt halbtot.
Trotz Stütze durch der Stöcker zwei
Zieht jeder flugs an ihr vorbei.
Gazellengleich sieht sie die andern
Schon fast im Lauf nach oben wandern.
Nun ja, sie wusste vorher schon:
Es mangelt ihr an Kondition.
Der Gletscher knirscht, der Berg, er knarzt
Schon jetzt fühlt sie sich reif für’n Arzt.
Es sind noch tausend Höhenmeter,
da hilft kein Stöhnen und Gezeter.
Im Berggasthaus gönnt sie sich Kuchen
Danach will sie’s noch mal versuchen.
Der Gipfel ruft, noch mehr die Seilbahn –
Doch wieder geht es nur noch steil an.
Und plötzlich ist der Weg zu Ende –
Was für ein schwieriges Gelände!
Geröll und Steine brechen weg.
Ist das normal? Was für ein Schreck!
Hier geht es weder rauf noch runter –
Nun ist sie plötzlich wieder munter.
Und bald erkennt sie es zum Glück:
Es gibt nur einen Weg: zurück!
Die Schweizer reden von drei Stunden –
Doch sie dreht ewig ihre Runden.
Ein Schneefeld! Toll, aber so lang?
Sie stapft und ihr wird langsam bang.
Die Beine werden schwer wie Blei,
Schon wieder zieht ein Mann vorbei.
Er hechtet nach der letzten Bahn.
„Was hab ich mir hier angetan?“
Ihr graust vor der Nacht in Wind und Schnee:
„Von wem war diese Scheißidee?!“
Erreicht die Seilbahn mit Müh und Not
Und auf dem Gipfel gibt’s Leberwurstbrot.
Späte Liebe
Als Berlinerin hatte ich nichts mit den Bergen am Hut. Wandern, das war für mich immer etwas Altbackenes gewesen: Rennsteig-Lieder, Luis Trenker, Lederhosen, Gamsbart am Hut und Wanderstöcke mit blechernen Plaketten drauf. Dass es auch eine moderne Variante gibt und sogar ganze Familien, die mit ihren Kindern hobbymäßig durch die Bergwelt ziehen, war mir unbekannt. (Da sieht man mal, wie man auch im hippen Berlin hinterm Berg, äh Mond, leben kann.)
Außerdem war ich vielleicht zu jung oder wusste noch nicht, dass ich eher introvertiert bin. Einer Studie zufolge lieben Extros eher das Meer und Intros eher die Berge. Ich mag beides, aber tatsächlich stechen die Berge bei mir mittlerweile das Meer locker aus. Berge sind voller Geheimnisse, Orte der Spiritualität. Und des Todes. Immer wieder begegnen einem unterwegs Tafeln aus mehreren Jahrhunderten, mit denen der Menschen gedacht wird, die dort verunglückt sind. „Hier ruht der Bergführer Joseph Soundso, verunglückt 1866.“ Bergführer! Selbst die Profis leben dort gefährlich.
Meine Freundin Maya* eröffnete mir die wunderbare Welt des Wanderns (Achtung, Alliterationsalarm! ). Zuerst zeigte sie mir das Allgäu, das für immer einen dicken fetten Platz in meinem Herzen einnehmen wird.
Dann ging es auf die schneebedeckten Gipfel des Karwendelgebirges. Wir nahmen uns immer anspruchsvolle Strecken vor, nach dem Motto: Wenn schon, denn schon. Das hatte aber auch einen anderen Grund: Für Flachländerinnen wie uns ist eine Bergwanderung ein Riesenaufwand. Wie beneide ich die Leute in den Bergregionen, die einfach mal spontan am Wochenende eine Tour machen können.
Mal kurz in die Berge
Für uns aus dem, na ja, Norden ist der organisatorische Aufwand riesig. Zuerst mal brauchen wir mindestens drei freie Tage, denn An- und Abreise kosten uns einen ganzen Tag (selbst per Flug). Das hieß damals, noch in Festanstellung: Urlaub nehmen. Flugtickets buchen und – wenn man irgendwo im Wald wohnen wollte – noch einen Mietwagen dazu. Und natürlich das Hotel. So waren schnell mal ein paar hundert Euro weg. Da konnte man nur hoffen, dass das Wetter mitspielt. (Im Übrigen ist das laut den Einheimischen ein Grund, warum viele Städter*innen in den Bergen verunglücken. Sie wollen ihre Tour unbedingt durchziehen und ignorieren das Wetter. DEN Fehler mache ich nicht. Dafür aber einige andere.)
Meistens planten wir 4 freie Tage ein, damit wir zwei Wanderungen hinbekamen: eine kleine zum Einlaufen und eine „richtige“. Letztere sollte sich dann natürlich auch wirklich lohnen. Und das ist ein bisschen das Problem. Diese große Wanderung muss natürlich spektakulär sein. Irgendein Kinderkram – mit der Seilbahn rauffahren und dann bisschen herumlaufen – kommt für uns nicht in Frage. Dann kam der Tag, an dem wir es übertrieben.
Little Tour of Horrors
Ein Wochenende in der Schweiz war geplant, es war 2013, wieder mit Wanderfreundin Maya. Es sollte meine erste Hüttenübernachtung werden. Aufregend! Sogar Steinböcke sollte es da oben geben. 4:40 Stunden waren ausgewiesen, um zur Glecksteinhütte zu kommen. Damals wusste ich noch nicht, dass die Angaben der Bergbewohner*innen für uns lahme Enten immer verdoppelt werden sollten. Überhaupt: Frage nie einen Einheimischen, ob eine Strecke schwer ist. Für die ist gar nix schwer!
Gleich am Anfang begingen wir einen großen Fehler: Wir fuhren nicht dicht genug an den Berg heran, sondern wanderten erst mal zwei Stunden zu ihm hin. Es ging idyllisch durch Wald und Wiese, lieblich läuteten die Kuhglöckchen. Allerdings waren auch schon zwei Stunden unserer Wanderzeit und Energie hinüber. Außerdem brezelte die Sonne unbarmherzig darnieder. Aber egal. In einem Feinkostgeschäft holten wir uns unsere Gipfelbrötchen – und los ging’s!
Anfangs waren wir noch gut unterwegs, bisschen langsamer als gedacht – aber hey, wir waren ja auch untrainierte Flachländer, gerade erst dem Büro entflohen. Die Schweizer Berge, und das muss ich jetzt wirklich mal kritisch anmerken, sind geradezu unverschämt steil. 😮 Also, gefühlt eine mörderische 45-Grad-Steigung, ohne eine flache Strecke zwischendurch, bei der man sich erholen kann. Die Sonne brannte weiter. Ein Wasserfall war eine willkommene Dusche. Yay, das Bergleben!
Mit der Zeit wurden wir immer langsamer. Es kam uns selbst merkwürdig vor. Wir wussten nicht, was los war. Waren wir einfach schlecht in Form? Alle beide? Komischerweise war ich diesmal etwas schneller als meine Wandergefährtin, obwohl die ja mehr Erfahrung hatte. Wir bewegten uns im Schneckentempo und machten immer mehr Pausen. Schweizer Rentnerpärchen überholten uns federnden Schrittes. (Ich komm da nicht drüber weg!) Es war bereits später Nachmittag.
Als wir auf eine Gruppe wandernder Männer trafen, fragten wir sie, ob wir wohl rechtzeitig zum Abendessen auf der Hütte sein würden. Sie lachten und rieten uns, den Abgang zu machen und mit dem Bus zurückzufahren. Das spornte uns nur noch mehr an. Verdammte Chauvis, die trauten uns ja gar nix zu! Mit dem Bus – ha! Was sind wir, Weicheier? Gebucht ist gebucht, sagten wir uns und schleppten uns weiter bergauf.
Plötzlich thronte sie auf dem Gipfel über uns – unsere Hütte! Da konnte es ja nicht mehr weit sein. Dies war unser nächster Trugschluss. Denn wie bei einer Fata Morgana konnten wir die Hütte zwar sehen, schienen ihr aber mit keinem Schritt näher zu kommen. Es war wie in einem Horrorfilm. Nach jeder Serpentine schien sie immer noch genauso weit weg wie vorher. Das graue Holzhäuschen neben dem Gletscher wurde zum Symbol des Grauens.
Irgendwann mussten wir uns eingestehen, dass wir nicht mehr konnten. Das Problem: Der point of no return war längst überschritten. Abzusteigen hätte länger gedauert als weiter hochzugehen. Unsere Beine waren bleischwer. Alle zehn Schritte mussten wir pausieren. Noch immer war ich etwas fitter als Maya und versuchte, sie zu motivieren.
Jetzt ging es gar nicht mehr ums Abendessen, sondern darum, überhaupt noch vor Einbruch der Dunkelheit und Kälte die Unterkunft zu erreichen. Zwei junge Schweizerinnen in Jeans und Turnschuhen, die wirkten, als würden sie mal eben Zigaretten holen gehen, überholten uns. (Ich denk mir das nicht aus!) Wir baten sie, oben Bescheid zu geben, dass wir noch kommen. Irgendwann.
Da hatte ich schon im Hinterkopf, dass uns notfalls jemand holen muss. Der Pfad, auf dem wir wanderten, war so schmal und gewunden, dass wir uns dort nicht einmal hätten hinlegen können. Außerdem: Rechts unten lauerte der Abgrund. Von den eisigen Temperaturen mal abgesehen. Die gute Laune war schon längst verflogen. Jede von uns setzte mit letzter Kraft einen Fuß vor den anderen. Und noch mal. Und noch mal.
Als wir die Hütte erreichten, geschah etwas Merkwürdiges: Maya schöpfte plötzlich wieder Kraft. Ich dagegen wurde leichenblass. Wir schafften noch ein Selfie. Die Hüttenwirtin hatte uns Suppe aufgehoben. Ich lehnte dankend ab (Alarmzeichen!), dann schleppte ich mich zur Toilette. Details erspare ich Euch, aber es kam alles überall raus. Im Zimmer brach ich zusammen. Ich hatte Schüttelfrost. Maya warf alle Decken auf mich, die sie finden konnte.
Ich bin wirklich kein Mensch, der sich große Sorgen um seinen Körper macht, aber in diesen Stunden hatte ich das Gefühl, ich sterbe. Meine Zähne klapperten, meine Extremitäten wurden kalt und taub. Später las ich, dass eine solche Kreislaufkrise als Zentralisation bekannt ist: Der Körper versorgt nur noch die lebenswichtigen Organe, also den Rumpf, mit Blut.
Währenddessen war Maya wieder oben auf, erkundete die nächtliche Aussicht auf das Dorf und den Gletscher und steckte zwischendurch den Kopf durch die Tür, um mir begeistert mitzuteilen, dass da draußen tatsächlich Steinböcke herumliefen. War mir egal. Ich hoffte nur, den nächsten Morgen noch zu erleben.
Am folgenden Tag fühlten wir uns beide ganz gut. Wir bewunderten den Gletscher im Sonnenlicht, stiegen ganz normal ab, setzten uns in den Zug, fuhren zu Freunden – und belegten zwei Tage lang deren beide Toiletten. Es ging uns dreckig, immer abwechselnd. Bis heute wissen wir nicht, was los war: Schock, Leberwurstvergiftung, Sonnenstich? Ein Virus? Oder einfach nur extreme Erschöpfung? Ohne Scheiß: Ich habe Jahre gebraucht, um mich von diesem Vorfall zu erholen. Ich würde sogar behaupten, es ist immer noch was zurückgeblieben. Der Körper verzeiht es nicht, wenn man die Batterie immer wieder ganz leermacht. Irgendwann ist man wie so ein altes Handy, was nicht mehr ganz volllädt.
Auf ein Neues
Ich wandere immer noch gern, bin aber mit Abstand die Langsamste auf der Tour. Mir ist wirklich noch nie jemand begegnet, der langsamer war als ich. Es ist nicht einmal die Kraft, es ist die Luft. Seit der OP kriege ich einfach weniger Luft und fange sofort an zu japsen, sobald es bergauf geht.
Das – und jetzt kommt’s – hielt mich aber nicht davon ab, mir wieder eine „schwarze Tour“ vorzunehmen. Denn wenn man schon mal in den Bergen ist … Wie Ihr dem Gedicht entnehmen könnt, bin ich dabei einmal in großer Absturzgefahr gewesen, weil ich vom Weg abgekommen bin (und da ich sehr trittfest bin, es erst mal weiter entlang der Bergwand versucht habe, bis es wirklich nicht mehr weiter – bzw. nur nach unten – gegangen wäre.) Dann musste ich die gefährliche Strecke wieder zurück.
Insgesamt war es einfach eine viel zu harte Tour. Dass ich es am Schluss überhaupt noch geschafft habe, habe ich dem Tipp einer Wanderin zu verdanken, dass es kurz unter dem Gipfel noch eine kleine Seilbahnstation gibt, wo man zusteigen kann. Keine Ahnung, wie ich die vier Stockwerke noch hochgekommen bin. Die Ausssicht konnte ich nicht mehr wirklich genießen – ich war einfach heilfroh, es auf den Gipfel geschafft zu haben, so dass ich mit der letzten Seilbahn wieder runterfahren konnte.
Für diese pure Selbstüberschätzung könnte ich mir gerade selber eine reinhauen. Ich weiß echt nicht, woher das kommt. Irgendwie bin ich nicht wirklich gut darin, meine Kraft und Zeit einzuschätzen. Bzw. ist es mir ein bisschen egal, weil ich denke: Ach, bisher hab ich doch immer alles geschafft. Hab ich ja auch, das ist ja das Schlimme! Das bestätigt mich nämlich darin, mich weiter zu überfordern.
Woher weiß man denn, dass es zu viel ist? Wenn man zusammenbricht? Wenn man tot umfällt? Genau so bin ich in meinem ersten Burnout gelandet. Ich hab einfach immer weiter gemacht und dachte, ich schaff das schon. Ich fand nie, dass es zu viel war. Das geht halt so lange, bis es nicht mehr geht. Wie findet man die Bergtouren (und Lebensaufgaben), die genau richtig sind: also nicht langweilig und schon eine Herausforderung – aber eine, nach der man nicht total erschöpft ist? Na ja, ich hoffe, ich lern’s in diesem Leben noch.
*Name geändert
Fotos: Lydia Krüger
War es wirklich eine viel zu harte Tour oder fehlte nur die Erfahrung, wie man harte Touren bewältigt? Beim Ausdauersport setzen häufig nicht die Muskeln, der Kreislauf oder die allgemeine körperliche Verfassung die engsten Grenzen, sondern der Kohlenhydrat- und der Wasserhaushalt. Während es im Stadtalltag genügt, auf Hunger und Durst zu hören und zu reagieren, muss man bei einer Daueranstrengung wie einer langen Wanderung oder einer langen Radtour prophylaktisch essen und trinken. Das ist ungewohnt, wenn man es nicht regelmäßig tut, und wenn man es unterlässt, kommt das negative Feedback zu spät. Man kann es sich aber antrainieren und damit Leistungen vollbringen, die einem vorher illusorisch erschienen.
Also an Essen und Trinken scheitert es bei mir NIE. ? Denke, es ist die Ausdauer, die mir fehlt. Aber nur bergauf! In Flachland kann ich stundenlang laufen.
Hi Lydia,
sehr schön, so lernt man dich mal von einer anderen Seite kennen. Das Gedicht ist wirklich sehr gelungen. Aber Sprachwitz ist ja auch deine Stärke! Ich meine, mich zu erinnern, dass du in einem Vortrag betont hast, dass du keinen Sport machst. Nun, das Bergwandern wäre ja schon mal ein Anfang. Es ist natürlich ein kräftiger Unterschied, ob man im Flachen läuft, oder ob man „Höhenmeter macht“. Endlos spazierengehen können viele auch ohne spezielles Training. Aber für bergauf braucht man ein bisschen Muckis an den richtigen Stellen. Ich war erst gestern bei einer Wanderung in Vorarlberg in der Rappenlochschlucht bei Dornbirn (Jahresausflug mit einem Kirchenchor – ich darf das immer organisieren). Da war z.B. Treppensteigen angesagt. Es zahlt sich dann schon aus, wenn man regelmäßig was tut. Ich jogge mindestens einmal in der Woche und baue dabei regelmäßig auch Bergaufläufe ein. So hält man auch die Figur einigermaßen auf Trab.
Schöne Grüße
Christian
Und wie immer ein Thema, das mich anspricht, auch wenn es mal in eine andere Richtung geht.
Intros mögen Berge, das habe ich letztens auch gelesen und fand mich bestätigt.
Ich traue mich eher immer ein bisschen wenig zu aus Angst schlapp zu machen, aber da motiviert mich mein Gatte. Ansonsten bin ich immer fasziniert und dann auch frustriert, wie flott andere die Berge hochkommen und wieder runter, insbesondere wenn sie jenseits der 60 sind.
Ich freue mich auf die nächstens Beiträge!
Äh, wie hoch war die Hütte denn? Eine Berlinerin bekommt die Höhenkrankheit vielleicht doch schneller als die Schweizer? Die Schwelle dafür soll sehr individuell sein…
Und bei den Rentnerpaaren, die an einem vorbeilaufen halte ich mir immer vor Augen, dass die das ja schon 40 Jahre geübt haben. 🙂
Die Hütte war auf 2.300 m. Aber ich war ja auch im Himalaya und hatte da keine Höhenkrankheit. ? Außerdem sind wir ja im Schneckentempo hoch. Tippe eher auf eine fiese Kombi aus Virus + Erschöpfung.
Also, an mir soll‘s nicht liegen. ???