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Die Frau, das unbekannte Wesen

Wenn man anfängt, sich mit Wissenschaft zu beschäftigen, stellt man fest, was alles noch nicht erforscht wurde. Die Ursachen vieler Krankheiten liegen immer noch im Dunkeln – das trifft selbst auf sehr häufige Krankheiten wie Parkinson zu. Auch über Katzen weiß die Menschheit kaum etwas, dabei begleiten diese wunderbaren Tiere uns nun schon seit den Zeiten des alten Ägyptens. Aber wisst Ihr, was auch kaum erforscht ist? Frauen! Diese seltsamen Wesen, die die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen.

Ich bilde mich ja seit einiger Zeit feministisch weiter und dachte, ich weiß schon recht viel. Bis ich im Urlaub das Buch „Unsichtbare Frauen“ von Caroline Criado-Perez las. Ich sag’s mal so: Es hat nicht gerade zur Entspannung am Strand beigetragen. 😉 Selten hat mich ein Buch so wütend gemacht. Das Ausmaß dessen, wie sehr Frauen auf der ganzen Welt nicht zählen, wie sie übersehen und gezielt ausgebootet werden, ist einfach unfassbar.

Die Botschaft der Autorin von Anfang an: Was nicht gemessen wird, kann man nicht verändern. Sie konstatiert ein „Gender Data Gap“, d. h. es fehlen einfach irre viele Daten über Frauen, weil sie nicht erhoben werden – dadurch ist es schwer, ihre Bedürfnisse zu belegen und zu befriedigen.

Das liegt vor allem daran, dass die Welt von Männern für Männer gebaut wurde: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Kultur, Medien – alles orientiert sich an den Bedürfnissen von Männern. Viele merken davon gar nichts. Es ist wie bei dem alten Gleichnis: Schwimmt ein alter Fisch an zwei jungen Fischen vorbei und ruft: „Na, wie ist das Wasser?“ Die beiden antworten: „Welches Wasser?“ Oder wie Simone de Beauvoir es ausdrückte:

Die Vorstellung der Welt ist, wie die Welt selbst, das Produkt der Männer: Sie beschreiben sie von ihrem Standpunkt aus, den sie mit dem der absoluten Wahrheit gleichsetzen.

Frauen sind nicht interessant, ihre Themen sind weich oder zu popelig oder peinlich (Menstruation!). Ihre Bedürfnisse sind egal, denn sie entsprechen nicht den Bedürfnissen der Männer. Und es ist nun mal verdammt schwer, andere Menschen von Bedürfnissen zu überzeugen, die sie selbst nicht haben. Menschen mit Behinderung können ein Lied davon singen. Aber der Reihe nach.

Das Männliche gilt in unserer Gesellschaft als das Normale, das Weibliche als Abweichung. Das Anatomie-Plakat in der Arztpraxis zeigt wie selbstverständlich einen männlichen Körper. In Schul- und Fachbüchern handeln die meisten Praxisbeispiele von Männern. Meine Psychologiebücher sind voll von Wissenschaftlern und ihren Theorien. Psychologinnen muss ich mit der Lupe suchen. (Es gibt sie, und zwar eine ganze Menge.)

Forscherinnen werden in wissenschaftlichen Publikationen systematisch weniger zitiert als Männer – und wenn, dann eher von Frauen. Frauen tauchen in der medialen Berichterstattung, in Büchern und Filmen viel zu selten auf – darüber habe ich in „Working while female“ geschrieben. „Frauen sind immer die Ausnahme, nie die Regel“, schreibt Criado-Perez.

Frauen sind im Grunde permanent gezwungen, die Gesellschaft an ihre Existenz zu erinnern. Das ist auch einer der Gründe, warum das Gendern teilweise solche Aggressionen hervorruft. Es schreit die ganze Zeit: Hallo, wir sind auch noch da!

Nun könnte man sagen: Ja, das ist blöd und nervt, dass Frauen nicht sichtbar sind – wenn es nicht ganz reale Auswirkungen hätte. Im Buch wird das Beispiel der Managerin Sheryl Sandberg genannt. Als sie hochschwanger war, konnte sie kaum laufen und stellte fest, dass Schwangerenparkplätze direkt am Eingang des Google-Bürogebäudes eine gute Idee wären.

Ihre Vorstandskollegen stimmten zu – wären aber von selbst nie auf die Idee gekommen, da sie nun mal keinen weiblichen Körper haben. Apple wiederum baute ein fantastisches neues Bürogebäude mit Spa und Zahnklinik, vergaß aber eine Kita. Ich liebe diese Beispiele, weil sie deutlich machen, warum Repräsentation so wichtig ist. Wir brauchen überall Frauen.

Frauen sind anders – sie haben einen anderen Körper, eine andere Rolle, einen anderen gesellschaftlichen Status. Wusstet Ihr, dass öffentliche Verkehrsmittel mehrheitlich von Frauen genutzt werden?* Deshalb werden sie auch so vernachlässigt. Frauen brauchen auf der Toilette mehr Zeit und pinkeln nicht mal eben schnell am Urinal, deshalb brauchen sie mehr Toiletten.

Sie müssen auch öfter, weil Schwangerschaften die Aufnahmefähigkeit der Blase beeinträchtigen können und sie öfter an Blasenentzündungen leiden. Na, wollt Ihr raten, was der Trend ist? Öffentliche Toiletten werden immer weiter reduziert, was übrigens zu einer Zunahme von Blasenentzündungen bei Frauen führt, da aufhalten sehr schädlich ist.

Frauen haben eine stärkere Gefahrenwahrnehmung und mehr Ängste im öffentlichen Raum (I wonder why 🙁 ). Sie richten die Wahl ihrer Routen und Verkehrsmittel danach aus. Mädchen nutzen Spielplätze anders bzw. ziehen sich zurück und überlassen sie den Jungen, wenn bestimmte Kriterien nicht erfüllt sind.

Fakten, Fakten, Fakten! Das ganze Buch ist voll davon.

Am meisten hat mich das Kapitel zur Arbeitswelt fasziniert. Hier ein paar Highlights daraus:

  • Frauen arbeiten immer, sie werden nur meist nicht dafür bezahlt. Weltweit wird 75 % der unbezahlten Arbeit von Frauen erledigt. Das kostet die Frauen 3-6 Stunden am Tag, die Männer nur 30 Minuten bis 2 Stunden. Männer haben 5 Stunden mehr Freizeit pro Woche als Frauen – Zeit für Hobbys, Vereine, Weiterbildungen, Karriere.
  • Frauen aller Altersgruppen erleben am Arbeitsplatz mehr Stress, Angst und Depression als Männer. Insgesamt sind Frauen um 53 Prozent gestresster als Männer, im Alter zwischen 35 und 44 Jahren noch mehr.
  • Überstunden machen Frauen krank. Das Risiko von Frauen, Depressionen und Angsterkrankungen zu entwickeln, steigt ab 55 Stunden Arbeitszeit pro Woche deutlich an. Auf Männer hat dies keine Auswirkungen. Jenseits von 40 Wochenstunden steigt das Risiko für Frauen, an Herzerkrankungen und Krebs zu erkranken – bei Männern hat dies sogar positive Effekte. [Anmerkung: Könnte mit dem ersten Punkt zu tun haben. 🙁 ]
  • Die Leistungsgesellschaft (Meritokratie) ist ein Mythos: In besonders leistungsorientierten Unternehmen stellen Manager lieber Männer als Frauen ein – bei gleicher Qualifikation.
  • Frauen werden stärker kritisiert und erhalten eher negatives Feedback, insbesondere Verhaltenskritik (zu laut, zu aggressiv). Dabei übernehmen sie mehr emotionale Arbeit (z. B. Coaching von Mitarbeiter*innen und Kolleg*innen, Trösten und Konfliktlösung) und ungeliebte Verwaltungstätigkeiten.
  • Normale Büros sind 5 Grad zu kalt für Frauen. Die Formel für die ideale Temperatur wurde in den 60ern anhand der Stoffwechselrate eines durchschnittlichen 40-jährigen Mannes von 70 kg berechnet. Frauen haben aber einen anderen Stoffwechsel. [Anmerkung: Ich bin in jedem Konfi erst mal zum Temperaturregler und hab den runtergestellt. 😀 ]
  • Frauen schätzen ihre Intelligenz (und die anderer) tendenziell richtig ein. Durchschnittlich intelligente Männer halten sich aber für intelligenter als zwei Drittel der Menschen. Sie überschätzen auch die Intelligenz anderer Männer.
  • Frauen sind für Führungspositionen besser geeignet als Männer. Eine Studie identifizierte Schlüsseleigenschaften erfolgreicher Führungskräfte: emotionale Stabilität, Extrovertiertheit, Offenheit für neue Erfahrungen, angenehmes Wesen und Pflichtbewusstsein. In vier dieser fünf Eigenschaften erzielten Frauen bessere Ergebnisse als Männer.

  • Viele Steuersysteme benachteiligen Frauen, sodass sie ein mehrfaches Armutsrisiko haben: Sie arbeiten oft Teilzeit und weniger Jahre, verdienen weniger (Gender Pay Gap) oder sind in prekären Arbeitsverhältnissen. Und dann werden sie auch noch stärker besteuert.
  • 60 % der Frauen erleben sexuelle Annäherungsversuche am Arbeitsplatz, davon 65 % von Vorgesetzten.

Traditionelle Arbeitsplätze sind am Prototypen eines mythischen Beschäftigten (natürlich ein Er) ausgerichtet, der sich um nichts weiter als um seine Arbeit kümmern muss. Frauen hingegen wollen flexible Arbeitszeiten und Homeoffice, um ihre unbezahlten Tätigkeiten (z. B. Haushalt, Kinder, Pflege von Angehörigen, Koordination des sozialen Umfelds) in den Alltag integrieren zu können.

Angefangen von Stellenanzeigen bis zu den Arbeitsmitteln ist die Arbeitswelt nicht auf Frauen angepasst. Wusstet Ihr, dass iphones für Männerhände gemacht sind? Das ist der Grund, warum ich mir immer noch kein größeres Modell gekauft habe: Ich kann es dann nicht mehr mit einer Hand bedienen. Männer schon.

Am meisten schockiert hat mich aber, dass Arbeitgeber es nicht mal für nötig halten, so essenzielle Arbeitsmittel wie Uniformen für Frauen zu adaptieren. Vielleicht, weil es so einfach wäre, so etwas zu verändern. Im Buch heißt es:

„Erst 2011, 35 Jahre nachdem Frauen erstmals an US-Militärakademien aufgenommen wurden, ließ die Armee Uniformen schneidern, die an weibliche Hüften und Brüste angepasst waren. Die Knieverstärkungen an den neuen Uniformen sind anders positioniert, um den normalerweise kürzeren Beinen der Frauen Rechnung zu tragen. Für die meisten Menschen wohl am spannendsten ist der neu gestaltete Schritt: Die Frauenuniformen verzichten auf den klassischen Reißverschluss und sind so konstruiert, dass die Frauen urinieren können, ohne die Hose herunterzuziehen.“

Alter, was?! Die Stiefel sind übrigens immer noch auf Männermaß. Ähnliches berichten Polizistinnen, die ihre viel zu klobigen Schutzwesten ausziehen müssen, um sich zu bewegen, Rettungssanitäterinnen, die im Einsatz nicht auf die Toilette können (weil Overall) usw.

Es gibt noch unglaublich viel zu tun, um die (Arbeits-)Welt an Frauen anzupassen – und nicht umgekehrt. Und eventuell habe ich eine Idee, wie ich dazu beitragen kann.

 

* Der Übersicht halber verzichte ich in diesem Artikel auf Details zu den Studien (von wem, aus welchem Jahr, für welches Land). Lest das Buch! Im Anhang sind alle Studien aufgeführt.

 

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Ein Kommentar

  1. Neeva

    Hey, das ist ein fieser Cliffhanger!

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