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Selbstfürsorge

Auf das Wort „Selbstfürsorge“ bin ich vor ein paar Jahren in einem Meditationsretreat in Indien gestoßen. Und sofort wusste ich: Ui, das kommt nicht von ungefähr, dass mir das Wort nicht geläufig war. Zwei Burnouts sprechen eine deutliche Sprache. Mir fehlte da irgendwas und ich nahm mir vor, in Zukunft besser für mich selbst zu sorgen. „Sei dir selbst eine liebende Mutter“, sagte mein Lehrer damals etwas cheesy. Gar nicht so einfach, wenn man es nie gelernt hat.

Das erste Mal, das mich überhaupt jemand darauf aufmerksam gemacht hat, dass ich mal bisschen auf mich achten soll, war in der Apotheke. Ich hatte dort einen ziemlich guten Ferienjob erwischt, ich muss so 15, 16 Jahre alt gewesen sein. Tatsächlich bestand mein Job darin, Pillen zu zählen 😀 und Chargennummern zu kontrollieren. (Seitdem schaue ich immer aufs Verfallsdatum bei Medikamenten – das kriegt man nicht mehr raus.)

Jedenfalls hockte ich auf dem Boden, am untersten Regal, und kontrollierte mal wieder Chargennummern. Da kam die Apothekerin vorbei und schob mir einen Schemel unter den Hintern: „Wenn man schon arbeiten muss, dann sollte man es sich so bequem wie möglich machen.“ Den Satz habe ich mir gemerkt, wenn auch oft nicht beachtet. Leider.

Arbeit first!

Denn tief in meinem Inneren bin ich ein Workoholic. Man gebe mir eine beliebige Aufgabe und ich bin Feuer und Flamme – im Flow, wie man heute sagt, und vergesse alles um mich herum. Je mehr Zeitdruck, desto mehr Spaß habe ich. Pausen? Da denke ich gar nicht dran. Sogar das Essen habe ich in den stressigsten Zeiten ausgelassen.

Bei einer Ayurveda-Kur sagte mal eine Ärztin zu mir, ich solle auf meine körperlichen Bedürfnisse hören. Keine Ahnung, woher sie die Idee hatte, dass ich das nicht tat. Aber ja, wenn ich früher richtig im Stress war, bin ich nicht mal aufs Klo gegangen.

Das ist natürlich alles wahnsinnig ungesund und ich bin im Nachhinein froh, dass mein Körper mir auf die harte Tour gezeigt hat, was er will: Nämlich weniger arbeiten. Das war am Anfang schwer für mich zu akzeptieren. Acht Stunden sind die Norm, aber wer ist schon normgerecht? Ich offenbar nicht.

Pausen zu machen, musste ich regelrecht trainieren, und es gelingt mir mittlerweile ganz gut. Wobei ich manchmal auch dreieinhalb Stunden durcharbeite, ohne es zu merken. Wenn ich mich überfordere, zahle ich immer einen Preis.

Bei körperlicher Arbeit ist es noch schlimmer: So gerne ich sie mache, so schlecht ist mein Körper dafür gemacht. Ich kann stundenlang „ackern“ (ein in meiner Familie sehr beliebtes Wort) und Spaß dabei haben. Aber danach geht dann nichts mehr.

Jugendlicher Leichtsinn

Je älter ich werde, desto mehr zwingt mich mein Körper, auf mich zu achten. Um mich herum sehe ich jüngere Menschen, die das nicht tun: Leute haben Nebenjobs – neben ihrer Vollzeitstelle! Das kann man natürlich machen, ich verstehe es sogar gut: Man hat mehrere Standbeine und ein bisschen Abwechslung. Und natürlich mehr Geld. Solange man jung ist, macht der Körper fast alles mit und regeneriert schnell. Aber irgendwann halt nicht mehr.

Eine Freundin berichtete mir stolz, dass sie binnen vier Wochen ihre Wohnung nicht nur komplett renoviert, sondern sogar saniert hat. Allein. Neben der Arbeit. Weil es so praktisch war, hat sie auf der Baustelle geschlafen. Naja, und kochen ging auch nicht – also hat sie kaum etwas gegessen.

Wenig überraschend brach sie danach zusammen, konnte sich eine Woche kaum bewegen und hatte Herzprobleme. Trotzdem zeigte sie mir stolz die Fotos der tip-top-sanierten Wohnung. Da bekam ich dann Herzschmerzen … 🙁

„Ist es Perfektionismus?“, fragte ich sie. „Nein“, meinte sie, „ich will einfach nur gute Arbeit abliefern.“ Das kann ich so gut verstehen. Aber sich Hilfe zu holen, ist völlig legitim. Ich leide ja auch an der Selbstüberschätzung, alles allein wuppen zu können.

Das ist ein positiver Feedback-Loop: Ich habe es allein geschafft und es ist super geworden – also werde ich es nächstes Mal auch wieder allein schaffen und es wird wieder super. Und so dreht sich die Spirale der Überforderung immer weiter, bis es nicht mehr geht.

Selbstfürsorge ist nicht mit Wellness zu verwechseln – das ist auch schön, ich liebe es und vermisse es so. Aber die Vorstellung, man könne sich endlos schinden und dann in ein paar Stunden Sauna oder mit einer Kur alles wiedergutmachen, ist falsch. Keine Meditations-App und kein grüner Smoothie können den Schaden reparieren, den jahrzehntelanger Selbstmissbrauch angerichtet hat.

Auf die Psyche aufpassen

Das gilt nicht nur für den Körper. Ich hatte Euch berichtet, wie eine Freundin ihren toxischen Job gekündigt hatte. Sie hat dort psychische Gewalt erlebt, brauchte aber sehr lange, um das unter der oberflächlichen Freundlichkeit ihres Chefs zu erkennen. Ihre zitternden Hände haben es ihr verraten.

Es gibt ja auch Leute, die mit beneidenswerter Sicherheit sofort wissen, was ihnen gut tut und was nicht. Die stehen dann einfach auf und gehen: „Das hier ist nichts für mich.“ Andere quälen sich viele Jahre.

Sich vom Leiden zu befreien, ist vielleicht der größte Akt der Selbstfürsorge – ob es nun der toxische Job ist oder eine ungute Beziehung. Selbstfürsorge ist überlebenswichtig. In letzter Konsequenz bedeutet das: sich ein Leben zu bauen, das in jeder Hinsicht zu den eigenen Bedürfnissen passt – wie ein ausgelatschter Pantoffel auf den Plattfuß.

Photo by Jan Antonin Kolar on Unsplash

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2 Kommentare

  1. Martin

    Liebe Lydia, danke für diesen Beitrag, der mal wieder den Nagel auf den Kopf trifft.

    Ich erkenne mich wieder: zum Teil stundenlang ohne Pause unbedingt etwas fertig bekommen zu wollen, „gerne“ unter (selbst gemachtem) Zeitdruck. Das passiert mir aber fast nur dann, wenn ich in „eigener Sache“ unterwegs bin – viel seltener im Büro bzw. als Angestellter, wo man sowieso ständig unterbrochen wird.

    Das ist auch einer der Gründe, warum ich noch immer vor der Selbstständigkeit zurückschrecke: Ich bin mir kein guter Chef (eher ein Sklaventreiber), und an Wissen über Achtsamkeit, Führung und Zeitmanagement fehlt es mir dabei bestimmt nicht (mehr).

    Es ist nur so schwer, all das in die Praxis zu bringen und die „ererbten“ toxischen Denkmuster vom „Ackern“ (bei uns würde man „Schaffen“ dazu sagen) zu überwinden …

    • Ja, je mehr Spaß die Arbeit macht, desto gefährlicher. Ich fühle mich oft faul und egoistisch, wenn ich meine Grenzen respektiere.

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