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Danke, Italien

Zurück aus dem Italien-Urlaub stellt sich wieder mal die Frage: Warum lebe ich hier und nicht in Italien? 🙂 Die Schönheit, das Essen! Aber nicht nur das. Während ich meinen postmediterranen Blues mit Pasta und mitgebrachtem Wein bekämpfe, analysiere ich, warum ich dort so entspannt bin und hier nicht.

Also, mal abgesehen davon, dass ich hier einen Alltag, ein Business und Familie mit allen damit verbundenen Problemen habe und dort nicht. Eines fiel mir diesmal besonders auf. Es ist nicht nur die Freundlichkeit, die man als Touristin ja irgendwie auch erwartet. Zwei Zutaten habe ich entdeckt, die vielleicht das vita ein bisschen mehr dolce sein lassen.

Die erste Zutat ist: Ich fühle mich dort fast so unsichtbar wie in Thailand. Und das ist etwas Gutes. In Deutschland lebende US-Amerikaner*innen tauschen sich auf Twitter immer wieder darüber aus, dass Deutsche die Angewohnheit hätten, sie anzustarren. Das ist mir vorher nie aufgefallen und ich fand die Diskussion immer etwas übertrieben.

Aber wenn das weg ist, ist es so erholsam! Immer wieder riskiere ich einen (hoffentlich unauffälligen) Seitenblick auf die anderen – im Restaurant, am Strand, in der Therme. Und tatsächlich: Niemand guckt! Ich weiß gar nicht, wie sie das machen, irgendwie ist man ja doch neugierig auf die Mitmenschen. Aber everybody minding their own f*cking business finde ich eine sehr angenehme Art, durchs Leben zu gehen.

Dazu gehört auch: Niemand mischt sich ein in das, was du gerade tust oder nicht tust. Als Berlinerin bin ich so geprägt (um nicht zu sagen traumatisiert), dass ich eigentlich in jeder Situation damit rechne, angeblafft zu werden. Aber das passiert in Italien nicht oder nur selten.

Noch vor ein paar Tagen saß ich am Gardasee auf einem Steg in der Sonne, minding my own business, wie immer. Da kam ein Taxiboot des Wegs und der Kapitän fing an, vor dem Steg herumzurangieren. Offensichtlich saß ich an der Taxiboot-Haltestelle. Ich raffte mein Handtuch etwas zusammen, um zu signalisieren, dass ich Platz mache für die ankommenden Passagier*innen. Das Boot legte an, die Fahrgäste kletterten auf den Steg und gingen an mir vorbei ihres Weges. Der Kapitän parkte das Boot im Yachthafen. Niemand hatte etwas gesagt. Ich war baff. Ja, warum auch, ich störte ja niemanden.

Bei einem Besuch in der Therme machte ich eine erstaunliche Entdeckung: Die Italiener*innen können selbst in der Sauna nicht auf ihr wichtigstes Accessoire verzichten: das Handy. 😀 Ich hatte mich etwas gewundert, dass überall Verbotsschilder mit einem durchgestrichenen Handy hingen – auch an der Saunatür. Dennoch hatten sich einige (nicht alle!) Besucher*innen nicht von ihrem Smartphone trennen können. Ich musste wirklich lachen, als meine Banknachbarin ihr iphone aus dem Handtuch pulte, um ein Panoramafoto vom malerischen Ausblick auf den See zu machen.

Sofort schoss mir durch den Kopf, was in einer deutschen Sauna los wäre: Recht am Bild! Datenschutz! Explosionsgefahr! Hausverbot! Niemand sagte etwas, nicht einmal die Angestellten der Therme. Ich muss es den Italiener*innen zugutehalten, dass sie recht diskret waren. Wer telefonierte, tat das leise. Wer filmte, bemühte sich, nicht die ganze Menschenmenge mit ihren bescheuerten Badekappen aufzunehmen. Einige fläzten auf der Sonnenliege und scrollten durch ihr Insta. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie das verstecken wollten.

Finde ich es eine gute Idee, das Smartphone mit in die Therme zu nehmen? Nein. Hat es mich gestört? Erstaunlicherweise nicht. Klar bin ich der Meinung, dass es handyfreie Zonen im Leben geben sollte. Und Thermen sind wohl sowas wie der letzte Schutzraum, ähm, gewesen. Aber wir sind doch alle erwachsene Menschen und können selbst entscheiden. Ich habe mich nicht belästigt gefühlt und damit war die Sache für mich erledigt. Am meisten hat mich beeindruckt, dass Handys Temperaturen um die 100 Grad überhaupt aushalten. 😀

Kommen wir zur zweiten Zutat, die Italien so entspannend macht: das Entgegenkommen. Entgegenkommen ist mehr als Freundlichkeit. Man tut etwas, was man nicht tun müsste – einfach, um dem Gegenüber einen Gefallen zu tun. Das ist mir in den wenigen Tagen in Italien so oft passiert, dass es schon auffällig war.

Auf dem Parkplatz kam mir ein Opa im Kleinwagen entgegen, die Durchfahrt war sehr eng. Na toll, dachte ich. Jetzt bleibt der aus Trotz stehen und fordert, dass ich nachgebe. Das passiert mir nämlich in Berlin ständig. Und dann wird noch aus dem Seitenfenster gemotzt. Aber nein, bevor ich es tun konnte, hatte er schon den Rückwärtsgang eingelegt und setzte zurück. Und zwar nicht nur die allernötigsten paar Zentimeter, die ich brauchte, um gerade so vorbeizukommen, sondern großzügig. Awwww! Ich war gerührt.

Und so ging es in einer Tour. Als ich den Hotelsafe lahmgelegt hatte 🙁 , ging ich zur Rezeption und rechnete insgeheim mit dem (typisch deutschen) tiefen Ausatmer der Rezeptionistin. Oder mit einem dummen Spruch, einem blöden Witz über Leute, die zu doof sind, vier Zahlen richtig einzutippen. Aber nein. Sie lachte und versicherte mir, dass ich nicht die Erste sei, der das passiert war. Dann suchte sie die Gebrauchsanweisung für den Safe heraus und entschuldigte sich, dass das ein paar Minuten dauern würde.

Vom Mietwagen-Verleiher, der abwinkte, als im Tank ein paar Liter Benzin fehlten, bis zum Eisverkäufer, der die heruntergefallene Eiskugel einfach mit einem Lächeln ersetzte – ohne sie zu berechnen. Es gab schon so viele nette Momente, wo ich mich gefreut habe, dass ein Mitmensch mir entgegengekommen ist. Dabei geht es natürlich nicht ums Geld, sondern einfach um die gezeigte Großzügigkeit, die Tatsache, dass man den anderen Menschen wahrnimmt und ihm etwas Gutes tun möchte.

In Berlin hingegen? Als ich neulich in der Autowäsche den Waschbon verloren hatte, marschierte ich fröhlich ins Kabuff, um mir einen Ersatz zu holen. „Das geht nicht!“, blaffte der Verkäufer. Nun, ich hatte vor wenigen Minuten bei ihm bezahlt und sogar noch die Quittung in der Hand. Auch mein Hinweis darauf, dass ich seit etlichen Jahren Stammkundin war, ließ ihn kalt. „Ihr Pech“, belehrte er mich. „SIE haben den Bon verloren, SIE müssen einen neuen kaufen.“ Seine Kollegin stand daneben und schaute in die Luft.

Ich habe einen ganzen Tag gebraucht, um den Hass auf diesen Typen aus meinem System zu kriegen. Er hätte mich einfach durchwinken können, wenigstens durch das billigste Waschprogramm. Das hätte meinen Tag gerettet und vielleicht auch seinen. Offenbar unterschätze ich das sadistische Vergnügen, dass manche Menschen daran haben, anderen das Leben schwer zu machen.

Oder letztens in der Notaufnahme. Ich gehe da selten hin, allein schon wegen der permanenten impliziten Unterstellung, man sei aus Jux und Dollerei dort. Zu meiner Überraschung waren alle äußerst freundlich und hilfsbereit, bis ich dann zur eigentlichen Ärztin kam. „Uuuund?“, fragte sie und schaute mich durchdringend an. „Was führt SIE an einem SONNTAGABEND in die NOTAUFNAHME?!“ Als meine Begleitung sich einmal zu Wort meldete, fuhr sie sie an: „Und Sie sind WER?“

Ich erstarrte innerlich. Was erlaubte sie sich? In meinem ganzen Leben habe ich einen solchen Satz mit einer solchen Intonation noch nicht geäußert. Needless to say waren wir freundlich und harmlos unterwegs. Ich meine, ich war krank! Meine Erwartungen an Berlin sind so niedrig, dass ich nicht mal mit Freundlichkeit rechne, aber wenigstens nicht fies zu Kranken sein – das sollte doch im Arztberuf eine Mindestanforderung sein. Als ich die Notaufnahme mit einer Diagnose und einem Stapel Rezepte verließ, überlegte ich kurz, mich offiziell über das Benehmen der Ärztin zu beschweren. Das Traurige ist: Ich glaube nicht, dass es Zweck hat.

Gegen Ende der Pandemie, als noch die Maskenpflicht in Arztpraxen galt, beobachtete ich fasziniert folgenden Ablauf im Wartezimmer: Alle paar Minuten kam eine Patientin ohne Maske rein, sah das Schild mit der Maskenpflicht, erschrak und  erkundigte sich am Empfang, ob sie dort eine Maske bekommen könnte. Die Antwort der Arzthelferin lautete jedes Mal gleich: „Ham wa nich. Da müssen Se runter inne Apotheke umme Ecke und sich da ne Maske kaufen.“

Ich konnte das auf mehreren Ebenen nicht fassen: Zum einen ließ sich hier wieder jemand die Gelegenheit entgehen, Menschen glücklich zu machen (und vielleicht auch ein paar Karmapunkte zu sammeln). Zum anderen wäre die Lösung doch ganz einfach gewesen: Entweder hätten sie die Masken kostenlos verteilt oder einen Selbstkostenbetrag dafür genommen. Von mir aus hätten sie auch die Kaffeekasse damit ein bisschen aufstocken können. Ich stelle es mir total frustrierend vor, den ganzen Arbeitstag lang Menschen abweisen und wegschicken zu müssen – aber offensichtlich gibt es Leute, denen das nichts ausmacht. Jede Bitte, jeder Sonderwunsch wird hier mindestens mit einem genervten Stöhnen  kommentiert.

Nicht so in Italien. Nach der Weinverkostung fragte ich die junge Winzerin, ob sie auch das leckere Olivenöl ihres Großvaters verkaufen würde. „Eigentlich schon, aber wir haben keine Flaschen mehr“, antwortete sie und wühlte unter dem Verkaufstresen. „Aber hier“, rief sie und reckte triumphierend einen leeren 5-Liter-Kanister in die Höhe, „ich habe das hier. Soll ich Ihnen etwas abfüllen?“ Ich lehnte dankend ab, das war mir zu viel. Aber ich freute mich, dass sie nach einer Lösung gesucht hatte.

In der Psychologie gibt es einen Fachbegriff für die kleinen erhebenden Begegnungen im Alltag: High Quality Connections (HQC). Das sind kurzfristige positive Interaktionen zwischen mindestens zwei Menschen, die für alle Beteiligten eine gute Erfahrung sind. Das kann so aussehen, dass man jemand anderem die Tür aufhält oder einfach etwas Nettes sagt. „Nice blouse!“ brüllte mir mal jemand nachts in New York City zu – von der anderen Straßenseite. Ich war so perplex, dass es ein bisschen dauerte, bis die Message bei mir ankam. 😀 Aber ich erinnere mich bis heute daran.

Wer eine HQC erlebt hat, fühlt sich erhoben, unterstützt und begegnet der Welt mit Vertrauen. Stress wird abgebaut. Und man ist bereit, diese positiven Gefühle an eine andere Person weiterzugeben. HQC sind also ansteckend. (Ob das für  Stinkstiefeligkeit auch gilt, ist noch nicht erforscht.) Theoretisch könnte ich demnach eine Kette der netten Gesten auslösen, durch meine eigene Freundlichkeit. Gelegentlich klappt das, aber es ist schwer, sowas durchzuziehen in einer eher feindlichen Umgebung wie Berlin. Es ist viel leichter, wenn man von HQC nur so umzingelt ist.

So wie in Italien. Grazie, Italia! <3

Foto von Benjamin Voros auf Unsplash

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7 Kommentare

  1. Liebe Lydia, dein Text spricht mir aus dem Herzen, vielen Dank dafür. Es wäre so einfach – ein paar random acts of kindness in der Woche tun einfach gut. Jedem! Was mich betrifft, führe ich die seit Jahren aus wo immer es möglich ist. Auch um der Berliner Stinkstiefeligkeit etwas entgegen zu setzten.
    Und was passiert? Die Betroffenen setzen sich in der Regel vor Verblüffung fast auf den Hintern – Sie sind ja SOOOO nett! – und schauen einen an wie eine Kuh mit zwei Köpfen. Ich werd’s nie begreifen und es gehört zu den wenigen Dingen für die ich mich bei meinen Landsleuten schäme.

  2. Gerwin Grossinger

    Ich kenne das beschriebene Gefühl auch ganz stark.

    Muß als Naturwissenschafter aber dazusagen, dass man als Tourist auch (fast) nur mit Personen zusammentrifft, die vom Tourismus leben – und eine Art professionelle Freundlichkeit pflegen.
    Bei einer Weinkost in D/Ö wird man sich ebenso bemühen, wenn ein Gast sich nach einem Produkt erkundigt..
    Und wie wird es zum Vergleich beim Arzt oder in der Notfallaufnahme in I zugehen?

    Tja – und damit ist irgendwie meine Antwort eine „typsich deutsche“ geworden 😉

    • Du hast da sicher ein paar Punkte (Notaufnahme in Italien, z.B.), doch was man (in Berlin jedenfalls) selten bis nie erlebt, ist der Wunsch nach Entgegenkommen und schlichte Freundlichkeit sowie Respekt. Da könnte sich die deutsche Mentalität an anderen Ländern durchaus ein Beispiel nehmen.

    • Wirklich eine ziemlich deutsche Antwort. 😛 Also, dass man sich im Tourismus oder Verkauf mehr Mühe gibt, kann ich für Berlin auf jeden Fall ausschließen. Selbst im vornehmen und teuren Biergarten muss man sich von unverschämtem Personal blöd kommen lassen … Aber klar gibt es auch in Italien Unfreundlichkeit und Gleichgültigkeit. In die Notaufnahme musste ich dort noch nicht. Ich weiß aber von einer Freundin, dass man sich dort noch mal ganz anders kümmert als bei uns – das ist noch mal ein anderes Thema. Mein Eindruck ist generell, dass die Baseline in Italien viel höher liegt und dass man sich viel eher auf der menschlichen Ebene trifft.

  3. Skully

    Die „deutsche Sicht“ von Gerwin hat vielleicht eine gewisse Berechtigung. In einer Berliner Notaufnahme geht’s ggfls auch noch ruppiger zu, dem Stress und der Berliner Schnauze geschuldet. Letzterer bin ich in Stuttgart nicht ausgesetzt, dafür gerne mal schnoddrigen Schwaben, wobei man selten welche im KH unter dem Personal antrifft.

    In Amiland sind sie im Service hyperfreundlich und ich frage mich inwieweit dies auch auf die Allgemeinheit abfärbt. Denn wenn man freundlich und entgegenkommend unentwegt bei einkaufen behandelt wird, so sollte dies auf alle abfärben, so meine Theorie.

    Und da wo die Sonne scheint, sind viele Menschen entspannter, weil es eben nicht schnell schnell geht. Viel zu warm dafür. Im weiteren wirkt sich viel Sonne positiv aufs Gemüt aus. Nun hatten wir in Deutschland dieses Jahr viel Sonnenschein. Sind die Leute in Berlin da nicht etwas entspannter? Bei uns in Stuttgart habe ich schon den Eindruck….

    Und freilich ist es schwer in Urlaubsstimmung miesgelaunte Italiener zu treffen, man zieht schließlich die gut gelaunten an…

    Fazit, Home-Office nach Italien verlegen, die haben gutes Internet dort und dann zu Meetings nach Berlin jetten. (Lassen wir mal die CO2 Abdrücke außen vor)….

    Gut gelaunte Grüße aus dem sonnigen Süden
    Steffen

  4. Chris

    Kann ich so bestätigen. Ein Jahr USA als Student, so gut wie nie ein unfreundliches Wort, egal ob von Touristen oder Service-Dame bei der DMV bei der Ausstellung eines Führerscheins und einer Schlange von 100 Leuten.

    Aber auch Italien: Unser Sohn hat eine relativ ausgeprägte Hundephobie. Verbotsschilder am Gardasee, aber das juckt da keinen. Ein kläffender Köter auf dem eingezäunten(!) Spielplatz. Stresspegel meines Sohnes auf 180, völlige Ignoranz des Italieners. Ich hab ihn angesprochen, dann ist er gegangen (immerhin ohne zu maulen). Die Hundephobie hat er übrigens ein paar Jahre zuvor… am Gardasee entwickelt! Da wurde eine 19-Jährige von ihrem Riesenköter herumgeschleift, null Kontrolle, der Hund bäumt sich vor unserem Kleinen auf und bellt und dann war’s geschehen.

  5. Danke liebe Lydia für diesen schönen Text. „Entgegenkommen ist mehr als Freundlichkeit“ werde ich mir merken!

    LG!
    Ardalan

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