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Die Größenwahnsinnigen

Ich weiß nicht, ob Ihr diese Tauchboot-Geschichte verfolgt habt. Auf dem Weg zum Titanic-Wrack war ein „experimentelles“ Tauchboot verlorengegangen, wurde tagelang vermisst, bis letztlich ein paar Überreste des Gefährts auf dem Meeresboden entdeckt wurden. Es ist höchstwahrscheinlich implodiert – Genaueres weiß man noch nicht. Das ist alles sehr tragisch für die fünf Passagiere, die bei diesem Abenteuer umgekommen sind und für deren Angehörige. Vor allem wäre es vermeidbar gewesen.

Wie so oft habe ich mich ein bisschen in die Story reingefressen, ein bisschen sogar in die technischen Details. (Auf Twitter gab es plötzlich ganz viele Tauchbootspezialisten, so wie kurz danach Söldnergruppe-Wagner-Experten. Die lachen mittlerweile schon selbst über sich.)

Was mich besonders fasziniert, sind die psychologischen Phänomene. Wieso fühlt jemand überhaupt den Drang, als Privatperson (nicht als Forscher*in) auf 3.800 m Tiefe zu tauchen, zu einem Schiffswrack, das über 1.500 Leichen unter sich begraben hat? Und das man sich jederzeit auf Youtube anschauen kann, vermutlich in besserer Ausleuchtung? Da geht es doch schon los. Von der Kohle für das Ticket, schlappe 250.000 US$, mal abgesehen.

Ist es Abenteuerlust, Risikofreude, das, was man in der Psychologie sensation seeking nennt, also die Suche nach der (extremen) Sinneserfahrung? Vielleicht auch eine Prise Ignoranz? Ich meine, wenn man sich verdeutlicht, was für ein Höllendruck in dieser Tiefe herrscht (und zwar von allen Seiten), und wie gering die Rettungschancen sind, wenn etwas schief geht, überlegt man sich doch hundertmal, ob man sich dem aussetzt.

Interessant ist auch der Gründer der Firma, die das Tauchboot „Titan“ gebaut hat – war er Narzisst, größenwahnsinnig oder kognitiv nicht in der Lage, die Folgen seiner Handlungen zu verstehen? Stockton Rush sah sich selbst als Visionär und Pionier seiner Zunft.

Auch nach dem katastrophalen Tiefseeunfall, bei dem er selbst ums Leben kam, wurde er noch immer von Fans und Freund*innen abgefeiert als jemand, der „Grenzen verschieben“ wollte – und nicht als jemand gebrandmarkt, der aufs Fahrlässigste Menschenleben gefährdet hat. Stichwort: männlicher Geniekult. *seufz*

Ein Hasardeur durch und durch

Nach allem, was man bis dato weiß, kann man diesen Mann nur als Hasardeur bezeichnen – als jemanden, der bewusst sich selbst und andere in Gefahr bringt, der die Gefahr liebt bis hin zu einer gewissen Todessehnsucht. In verschiedenen Interviews hat Stockton Rush deutlich gemacht, dass Sicherheit nicht sein oberstes Gebot (!) ist.

Außerdem sei man ja Risiken ausgesetzt ist, sobald man morgens aus dem Bett steigt. Fair enough. Aber ob ich auf dem Weg zum Klo über die Katze stolpere und mir einen Zeh breche oder aber in der Meerestiefe in Fetzen gerissen werde – das sind doch nun wirklich zwei völlig verschiedene Paar Schuhe.

Klar, hinterher ist man immer schlauer. Und die Überzeugungskraft des Gründers scheint immens gewesen zu sein – in Kombination mit dem Geniekult, seinem Größenwahn und seiner offensichtlichen Selbstüberschätzung war es sicher nicht einfach, ihn zu durchschauen.

Im Fernsehen zeigte er stolz den Controler einer Spielekonsole, mit dem das Unterwasserfahrzeug gesteuert wurde. Die Lampen stammten aus dem Baumarkt. Das klingt vielleicht cool und clever, bis man erfährt, dass die US Navy bei ihren U-Booten jede Schraube von der Herstellung bis zum Einbau verfolgt, um sicherzugehen, dass die Qualität stimmt.

Technische Schlamperei?

Das Tauchboot war nicht nur von fragwürdiger Qualität. Es besaß eine zylindrische Druckkapsel, wovor ebenfalls alle Expert*innen gewarnt hatten, da diese Form dem hohen Druck in der Meerestiefe eine große Angriffsfläche bietet. ALLE Druckkapseln bisheriger Tauchboote waren rund – aus gutem Grund: Eine Kugel ist die stabilste Form. Aber nein, Rush wollte nach eigenener Aussage als Innovator in die Geschichte eingehen, der Regeln bricht. *Augenroll*

Die Druckkapsel der „Titan“ war zudem aus einem „innovativen“ Karbon-Verbundstoff statt dem üblichen Stahl oder Titan hergestellt. Alle, die sich damit auskannten, rieten Stockton Rush davon ab, dieses Material zu verwenden. Es sei zwar in der Luft- und Raumfahrt üblich, sei aber nicht druckstabil und daher für die Tiefseefahrt ungeeignet. Das Material werde spätestens nach einigen Tauchgängen rissig und irgendwann nachgeben. Genau das scheint passiert zu sein.

Es gab Warnungen von Ingenieur*innen und anderen Tiefseeforscher*innen, die sogar einen offenen Brief an den Gründer schrieben, er solle das Boot unbedingt offziell prüfen und zertifizieren lassen – quasi durch den TÜV bringen –, bevor er zahlende Passagier*innen mit auf den Meeresboden nimmt.

In seiner grenzenlosen Selbstüberschätzung feuerte der Besitzer der „Titan“ schon 2018 einen Ingenieur, der einen kritischen internen Bericht über den Zustand des Tauchboots geschrieben und auch die Behörden alarmiert hatte. Der Whistleblower ist bis heute nicht an die Öffentlichkeit gegangen. Kaum vorstellbar, wie schlimm es für ihn gewesen sein muss zuzusehen, wie seine Befürchtungen wahr wurden und Menschen ihr Leben verloren haben.

Zum Scheitern verurteilt

Es gab also viele Alarmzeichen. Aber das größte aller Alarmzeichen war ein Video, indem ein Journalist, der bei einem Tauchgang an Bord war, beschrieb, wie die Besatzung von außen „eingeschraubt“ wurde. (Ja, richtig, sie konnten sich nicht selbst aus dem Boot befreien, auch nicht an der Wasseroberfläche.)

Dazu seien 18 Schrauben nötig gewesen, aber die Crew habe nur 17 festgeschraubt: „Ach, die achtzehnte, an die kommt man so schlecht ran! 17 Schrauben reichen auch.“ Spätestens an dieser Stelle wäre ich schreiend davongelaufen – nicht wegen der einen Schraube, sondern wegen des himmelschreienden Leichtsinns, der aus einer solchen Haltung spricht.

In diesem Video schildert ein Youtuber seinen gescheiterten Versuch, mit der „Titan“ auf den Meeresgrund zu tauchen. (Übrigens gelangen nur 14 % der Tauchversuche, d. h. 86 % scheiterten. Mal an den Wetterbedingungen, oft aber auch an der Technik.) Ab 21:20 seht Ihr dann endlich einen Ersatztauchgang. Gruselig ist für mich der Moment, als die Passagiere in das Tauchboot „eingeschraubt“ werden.

„Man kann ein tiefgehendes Tauchboot durchaus sicher betreiben“, sagt die Tiefseetaucherin und -filmerin Kirsten Jakobsen. Immerhin ist bis zur Implosion der „Titan“ kein einziges Tauchboot unten geblieben. Das Wissen der Menschheit über Tiefseetaucherei hat sich seit den Anfängen in den 60ern vervielfacht.

Titanic-Regisseur James Cameron, selbst Tiefseetaucher, hat sich sogar auf den tiefsten Punkt des Meeres in 10.900 m Tiefe begeben – in einem selbst designten, experimentellen Tauchboot. Allerdings waren dort alle Risiken so weit wie möglich abgefedert, z. B. durch redundante Systeme (d. h., alle lebenswichtigen Systeme sind mindestens doppelt vorhanden). Das kostet natürlich …

Cameron gehört übrigens zu den schärfsten Kritiker*innen von Rush. Und er ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein verantwortungsvoller Abenteurer aussieht im Gegensatz zu einem Menschenleben gefährdenden Spieler.

Größenwahn mit Folgen

Für mich ist diese ganze Tauchboot-Saga zutiefst symbolisch für eine Schicht reicher, größenwahnsinniger Männer, die glauben, alles besser zu wissen als eine ganze Reihe erfahrener Expert*innen. Stockton Rush war sogar stolz darauf, dass er nicht mit 60-jährigen Ingenieur*innen, sondern jungen, „innovativen“ Leuten zusammenarbeitete. Mit Praktikanten!

Als er einmal seine Buchhalterin (!) aufforderte, als Pilotin das Tauchboot zu steuern, ergriff diese entsetzt die Flucht und kündigte. Ich meine, ernsthaft jetzt? Wie deutlich kann man das Schicksal herausfordern, die Katastrophe einladen?

In dem Haftungsausschluss, den alle Passagiere unterschreiben mussten, tauchte dreimal das Wort „Tod“ auf. Man muss nicht abergläubisch sein, um darin ein Zeichen zu sehen, dass Rush & Co. den Tod billigend in Kauf zu nehmen schienen, statt alles dafür zu tun, um nach jedem Tauchgang wieder heil an die Oberfläche zu kommen.

Stockton Rush war einer von denen, die das Rad unbedingt neu erfinden wollen, auch wenn es vielleicht seinen Grund hat, dass es rund ist. Die wie Steve Jobs nach Abkürzungen suchen, die Dinge vereinfachen wollen, was ja grundsätzlich nichts Ehrenrühriges ist. Aber das Leben ist keine Software: Man kann nicht einfach etwas Essenzielles weglassen oder austauschen, um mal zu gucken, was passiert.

Simple is smart, dieses Motto klingt erst mal gut. Aber einfach ist nicht immer schlau oder besser. Einfach ist manchmal einfach einfältig. Es gibt eine schlaue Art von einfach – für mich repräsentiert durch das iphone. Allerdings ist es nur einfach an der Oberfläche, darunter läuft etwas sehr Komplexes, mit dem man netterweise als User nicht belästigt wird. Diese Art von Einfachheit zu erreichen, ist sehr aufwändig.

Und dann gibt es eine dumme Art von einfach, die einem überall begegnet. Dumm einfach ist, wenn man auf die Tür steigt, um die Decke zu streichen. Es gibt sehr, sehr viele Videos im Internet zum Thema dumm-einfach. 😛

Stockton Rush gehört meiner Meinung nach in eine Reihe mit gefährlichen Möchtegern-Genies wie Elon Musk und Sam Altman, die jenseits moralischer Verantwortung die Menschheit als ihr Spielzeug ansehen. Die uns mit künstlicher Intelligenz in die, pardon, Scheiße reiten werden. Die Menschen Chips einpflanzen wollen (ja, wirklich), um ihre Gedanken zu lesen. Die glauben, dass die Gesetze nicht für sie gelten.** Auch nicht die Naturgesetze. Und das kostet am Ende Menschenleben.

** Apropos fehlende Gesetzestreue: Wusstet Ihr, dass die Twitter-Zentrale seit Monaten keine Miete zahlt? Einfach so? Und auch für die Server, auf denen Twitter läuft, sind massive Schulden aufgelaufen. Es sind x Arbeitsrechtsprozesse gegen das Unternehmen anhängig usw.

PS: Sorry wegen der vielen englischsprachigen Links. Das liegt einfach daran, dass US-Journalismus häufig investigativer und fundierter ist als deutscher. There, I said it! Auf Deutsch haben z. B. T-Online und SPIEGEL über die „Titan“-Katastrophe berichtet.

Foto von Sarah Lee auf Unsplash

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7 Kommentare

  1. Tina

    Super Artikel von Dir Sarah, den ich nur voll unterstreichen kann. Und: -> wer sich in Gefahr begibt kommt darin um (heißt es so schön in einem Sprichwort), was bei dieser Titan-Aktion wahr geworden ist. Aber was für ein Aufhebens gemacht wurde um diese 5 Menschen, auf der anderen Seite ertrinken Menschen im Meer, Menschen, die auf der Flucht sind und leider keine 250.000 US haben, sondern sich leider auch in Gefahr begeben für ein besseres Leben oder Flucht aus Kriegen.

      • Ja, den hab ICH geschrieben.:D Danke dir Lydia, ich hatte das nur so am Rande mitbekommen und hab jetzt Lust, ein paar Zeitungsartikel dazu in mein Theaterwochenende zu „20.000 Meilen unter dem Meer“ einfließen zu lassen, so als Gegenüberstellung. Du hast mich sehr inspiriert.
        Liebe Grüße, Sarah

        • Das freut mich! Klingt super, das Theaterwochenende. Ich sehe, Du surfst auf der Welle Deiner neuen Identität als Küstenbewohnerin. Konsequentes Branding! 😄🌊

  2. Angharad Beyer

    Volle Zustimmung zu jedem Satz! So ähnlich habe ich auch gedacht. Wie verrückt muß man sein, um so ein Abenteuer so blauäugig und fahrlässig anzubieten – und sich darauf einzulassen!
    Bezeichnenderweise waren da keine Frauen dabei …

    • Es sind gelegentlich auch Frauen mitgefahren bei früheren Tauchgängen, aber wenige. Für den letzten Tauchgang wollte eigentlich die Frau des einen Passagiers mitfahren, hat aber dann den Platz ihrem Sohn überlassen. Schrecklich …

  3. Constanze

    Herzlichen Dank, liebe Lydia! Ich kannte schon ein paar echt abwegige Gründe, als Buchhalterin zu kündigen, aber der kommt in meine Top 3.
    (In meinen Top 10 sind übrigens auch ein paar prächtige Beispiele für Größenwahn und galoppierenden Schwachsinn weiblicher Auftraggeber. Zuviel Geld und ein tiefsitzender Vaterkomplex wirken bei beiden Geschlechtern fatal. Das sei nur der Fairness halber hier erwähnt.)

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