Offensichtlich bin ich nicht gut darin, Leute zu kritisieren. Es gibt nur zwei Extreme: Entweder ist meine Kritik so höflich und subtil, dass mein Gegenüber sie nicht wahrnimmt und einfach über mich wegwalzt. Oder meine Kritik ist so deutlich, dass mein Gegenüber sich angegriffen fühlt oder beleidigt ist. Und jetzt weiß ich auch nicht.
Manchmal versuche ich es erst subtil, es funktioniert nicht, dann hole ich die Keule raus. Ein anderes beliebtes Muster ist, Kritik so lange in mich reinzufressen, bis ICH irgendwann ausraste. Meistens dann hier auf dem Blog, hehe.
Ich habe es natürlich auch schon mit schierer Sachlichkeit versucht, woraufhin ich die absolut emotionalsten Reaktionen bekommen habe. Oh Mann.
Der südafrikanische Comedian Trevor Noah (Riesenfan, Riesenfan!) beschreibt in dieser Episode, wie Weiße reagieren, wenn jemand im Flugzeug auf ihrem Platz sitzt. Ich sag mal so: Sie versuchen es solange mit subtilen Andeutungen, bis die Situation eskaliert. 😀
https://youtu.be/P2zDVe2Xor8
Immer diese Interessenskonflikte
Neulich war ich wieder bei der 3D-Arbeit auf dem Feld. „Du gehst in den Lauch, Unkraut rupfen“, beschied mir Bauer Christian. Es war ein sonniger Tag, nicht zu warm und nicht zu kalt, ein perfekter Tag für den Ackereinsatz.
Ich stapfe also frohen Mutes, hochmotiviert und voller Vorfreude auf ein paar Stunden kontemplativer Arbeit auf das Feld – und erstarre. Dort sind schon vier Leute am Arbeiten und zwei Mädels HABEN MUSIK DABEI!
Sie hatten einen kleinen Lautsprecher neben sich gelegt und beschallten das halbe Feld mit (unfassbar schlechter 😛 ) Musik. Ich war erschüttert. Da ist man draußen in der Natur, endlich raus aus der lauten, stinkigen Stadt und dann macht man Lärm?
Ich muss dazu sagen, dass ich empfindliche Ohren habe und laute Musik für mich immer wie Lärm klingt – es sei denn, sie kommt aus sehr guten Lautsprechern. Das wurde mir erst bewusst, als ich mal für ein paar Tage einen A6 Quattro mit Bose-Boxen hatte und plötzlich wie so ein Zuhälter mit lauter Musik durch die Straßen cruiste. Sonst schalte ich nämlich überall, vor allem auch im Auto, die Musik aus.
Hinzu kommt, dass laute Musik und sämtliche Nebengeräusche wegen meiner Stimmbandlähmung für mich immer mit zusätzlicher Anstrengung beim Sprechen verbunden sind, so dass ich da unbewusst sowieso schon gestresst bin.
Stufe 1: Ignorieren
Und jetzt kommt’s. Was tat ich? Nichts. Es ist jedesmal dasselbe. Mein erster Gedanke ist nämlich: „WIESO zur Hölle merken die das nicht?“ Warum kommen die nicht von selbst darauf, dass andere das vielleicht nicht so toll finden, von ihnen beschallt zu werden? Ohren kann man ja bekanntlich nicht verschließen. OK, sie waren jung, aber wiederum auch nicht sooo jung.
Mein zweiter Gedanke: „Warum muss ICH jetzt in die Spießerrolle gehen und sie bitten, die Musik leiser zu machen?“ (Am besten natürlich AUS, war echt Scheiße, dieses Geschrammel, aber so weit wollte ich nicht gehen.) Ich fühle mich dann immer als intolerante Spaßbremse, als alte Gouvernante, als Erzieherin wider Willen. Wieso muss ich denen beibringen, was ihre Eltern nicht geschafft haben? Puh.
Der dritte Gedanke (beim Unkrautrupfen konnte ich meinen Gedanken sehr schön zugucken): Ich bin selbst ein extrem freiheitsliebender Mensch und mag es gar nicht, wenn mir jemand Vorschriften macht. It’s a free country.
Die Frage ist halt immer: Wie weit geht die Freiheit des Einzelnen? Ich müsste deren Freiheit jetzt beschneiden und das geht mir eigentlich gegen den Strich. So ein bisschen Musik auf dem Feld ist ja eigentlich eine Lappalie – aber mir versaut sie gerade den Tag. Wegen dem „Wa“.
Wa – Harmonie und Einheit
Dass es „Wa“ gibt, habe ich erst heute erfahren – in einem Buch über Introvertierte und ihre Stärken („Introvert Power“ von Laurie A. Helgoe*). Darin hieß es, dass für die Japaner „Wa“ extrem wichtig ist. Das bedeutet Harmonie. Ich bin auch ein ziemlich harmoniebedürftiger Mensch.
Der Unterschied bei den Japanern ist aber, dass sie von klein auf lernen, dass jeder Einzelne mitverantwortlich dafür ist, dass alles funktioniert und diese Harmonie aufrechterhalten wird. So ein bisschen war das bei meiner kollektivistischen DDR-Erziehung auch. Und das vermisse ich. Dass Leute für andere mitdenken, mit anpacken und halt einfach Rücksicht nehmen.
Mich macht das immer total fertig, wenn Leute innerhalb einer Gruppe ihre eigenen Interessen vornean stellen – was ja aber in der individualistischen Gesellschaft, in der wir leben, belohnt und geradezu gefordert wird.
Womit ich auf keinen Fall sagen will, dass ich vor Verpeiltheit, Faulheit oder Egoismus gefeit bin…
Stufe 2: Tricksen
Als die Mädels mit ihrem Stück Feld fertig waren, fragten sie, wo sie weitermachen sollten. Das war meine Chance! Ganz im Sinne des „Wa“ zeigte ich freundlich auf das am weitesten von mir entfernte Stück. Take your music and go faaar away! Ich glaube, es steckt eine Japanerin in mir. 😀
Mein, wie ich fand, äußerst cleverer Schachzug ging insofern nach hinten los, als die beiden sich recht schnell wieder in meine Richtung vorgearbeitet hatten. Ja, sie schoben den Lautsprecher sogar vorausschauend ein paar Meter weiter zu mir rüber.
Verdammt, mit „Wa“ kam ich hier wohl nicht weiter.
Es war bestimmt schon eine Stunde vergangen und das Gedudel zerrte an meinen Nerven. Ich musste jetzt etwas sagen! Aber zuerst musste ich mich vorbereiten. Es galt, alle Verachtung für ihren schlechten Musikgeschmack, ihre Nichtsmerkerei und meinen Frust darüber, dass ich ihretwegen nun die Harmonie stören musste, aus meinen Worten zu tilgen.
Stufe 3: Kritik mit der Zauberformel
Mir fiel ein, dass ich mal was von einer Zauberformel gelesen hatte, sie stammt von der Mutter, die mit einem wilden kleinen Jungen namens Lukas klarkommen musste. Sie wiederum hat den Tipp von einem Kindertherapeuten bekommen. (Endlich profitieren auch mal die Mütter, die hier mitlesen.)
Die Zauberformel
„Kurze, knappe, freundliche, aber sehr bestimmte Anweisungen. Keine langen Diskussionen, Begründungen nur auf Nachfrage. Stets das Wort Bitte benutzen und jegliche Aufregung vermeiden.“
Nach anfänglichen Irrläufern wie „Lukas, ich möchte, dass du nicht schreist, bitte.“ – „Mir doch egal, was du möchtest!“ (geschrien)… oder „Lukas, wenn du schreist, stören sich die Nachbarn, hör auf bitte.“ – „Sollense sich stören!!!!“ (auch geschrien) …. kam ich selbst drauf: „Schreist du bitte nicht?“ – „Ääähm. OK.“
1. VERB (kein Hilfsverb wie können, dürfen, etc. – sondern genau das, worum es geht)
2. Anrede: DU oder SIE (keine Beleidigungen!)
3. BITTE
4. Rhetorisches Fragezeichen
Was bei kleinen wilden Jungs funktioniert, wird wohl überall funktionieren. Jedenfalls hatte ich die Methode schon öfters getestet. Im Kino: „Hört Ihr bitte auf zu reden?“ Bin damit bisher ganz gut gefahren. Jedenfalls besser als mit: „Könnt Ihr nicht mal AN-DERT-HALB Stunden ruhig sein?“ oder „Macht doch Netflix, wenn Ihr quatschen wollt.“ 😀
Stufe 4: Der Showdown
Ich zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht, stellte auf Bauchatmung um (musste ja über die Musik und die Distanz kommen) und rief: „Hey Ihr zwei, die Musik, macht Ihr die bitte leiser?“ Die beiden guckten überrascht hoch – und machten die Musik leiser. Wahrscheinlich wunderten sie sich, dass ich erst nach einer Stunde damit ankam. 😀
Ich spürte ein leichtes Angepisstsein auf deren Seite, aber vielleicht bildete ich mir das auch ein. Kurz danach gingen die beiden, und „Wa“ war wiederhergestellt.
Ich bin mir sicher, dass ein Japaner lieber stundenlang still gelitten hätte, um „Wa“ zu bewahren. Gottseidank bin ich wenigstens über diesen Punkt hinaus.
In diesem Sinne: Sayonara!
Danke Lydia für ‚Wa‘.
Ich identifiziere die „still leidende Ausprägung“ als Synonym für das gute deutsche 🙂 Wort ‚Contenance‘ bzw. „Haltung bewahren“.
Tatsächlich geht es bei ‚Wa‘ wie Du es hier darlegst eher um den KOLLEKTIVEN Einklang aller mit allem. Daher wohl die DDR-Vertrautheit. 😉
Bei so einfachen Unterdrückungswünschen funktioniert Dein ‚Verschwinde-Zauber‘ in der Tat erstaunlich gut. Vielleicht noch gefolgt von einer militärischen Begründung wie ISSO.
Wobei eine Variante davon – Ich Schrei SOnst – für Dich wohl ausfällt.
Wenn sich ‚Wa‘ jedoch darauf bezieht, einen Zielzustand nur mithilfe der angesprochenen zu erreichen – aka ‚Teamleistung – dann hilft das hier auch ganz gut:
Dance the ‚VUCA‘:
– Visualize
– Unite
– Create
– Adapt
Schont auch die Stimmbänder …
Sehr schön gemansplaint. ? Habe ja die Bedeutung von „Wa“ verlinkt. Der kollektive Einklang wäre für moch gewesen, wenn wir einfach zusammen auf dem Feld gearbeitet hätten, ohne Extrawünsche. Werde mich auf jeden Fall noch mehr damit beschäftigen.
Muss ich mir merken, für die Arbeit! Gute Formel! 😀
Besonders sexy finde ich ja „keine Begründung“. Da fängt die Diskussion nämlich oft an.
Ich bin überrascht!
Denn umgekehrt ist mir auch das „Kopierer-Experiment“ bekannt, welches genau das gegenteilige Resultat liefert. 😀
Eine Ausprägung wird zum Beispiel hier erwähnt:
https://www.charisma-callcenter.de/weil-kleines-wort-grosse-wirkung/
Kurz umrissen: Leute wollen kopieren, allerdings ist die Schlange lang. Die Testperson versucht verschiedene Fragetechniken um vorgelassen zu werden, beginnend mit „Darf ich vor?“. Der Erfolg kann sich für so eine sporadische Frage trotzdem sehen lassen: Im verlinkten Experiment werden 60% vorgelassen, mir sind aber auch Versionen bekannt, in denen es deutlich weniger waren. Die Testfrage Nummer Zwei enthält meistens irgendeine sehr nachvollziehbare Begründung, zum Beispiel „Lässt du mich bitte vor, weil ich sehr spät dran bin?“ Deutlich mehr Leute lassen die Testperson vor.
Dann folgt der überraschende dritte Fall: „Lässt du mich bitte vor, weil ich kopieren muss.“ 😀
Tatsächlich wird die Person dabei genauso häufig vorgelassen, wie in der zweiten Frageversion. Und jedesmal in den Fällen zwei und drei deutlich häufiger als mit der sporadischen Frage.
Man hat daraus den Schluss gezogen, dass irgendeine Begründung besser ist als gar keine Begründung.
Gleichzeitig finde ich auch den Erfolg deiner Strategie nachvollziehbar. Ich frage mich woran das liegt. Möglicherweise hat das Versuchsszenario hier einen entscheidenden Einfluss. In deiner Felderfahrung 🙂 geht es ganz konkret darum, dass die Personen als Individuum ihr Verhalten ändern sollen. Das ist etwas persönliches, weswegen man sich auch schnell angegriffen fühlen kann und vielleicht reagieren die Leute bei langen Begründungen dann auch eher mit einer Diskussion, weil sie ihre eigenen Sichtweise darlegen wollen.
Beim Kopiererexperiment hingegen hat das sehr wenig bis gar nichts mit mir selbst zu tun, außer, dass ich vielleicht zwei Minuten länger warten muss. Angegriffen fühlt man sich davon hingegen eher weniger.
Die perfekte Strategie, um unangenehmes zu verlautbaren, hängt insofern wohl auch von der individuellen Situation mit all ihren vielen Einflüssen ab.