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Kartoffelglück zum Anfassen

Am Tag der deutschen Einheit hab ich bei der Kartoffelernte geholfen. Hab vier Stunden lang in der Erde gewühlt und mich über jede Kartoffel gefreut, die mir entgegenleuchtete.
Das überrascht Euch jetzt vielleicht, aber in Berlin gibt es tatsächlich noch ein paar Bauernhöfe. 🙂 Vor allem am Stadtrand – in Rudow, Lübars oder Gatow. Betonung auf „noch“, denn die Betonierung der Stadt schreitet voran, auch an den Rändern. Weil wir alle ja immer mehr Platz brauchen.

Ich habe fürs Kartoffelausgraben kein Geld bekommen. Hab’s als eine Art Subbotnik zugunsten der Berliner Biokartoffel angesehen. Immerhin gab es was Leckeres zu essen, damit kriegt man mich ja immer. Und am Ende hab ich auch noch ein paar Kartoffeln und Rüben … gekauft.

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Städter*innen bei der Kartoffelernte (inklusive Line Manager)

Richtige echte Arbeit

Im Gegensatz zu den Dorfkindern unter Euch, die früher zur Feldarbeit verdammt waren 😉 und jetzt wahrscheinlich gähnend aufhören zu lesen, ist sowas für mich als Stadtmensch und Bildschirmarbeiterin Erholung pur.

Vielleicht wird es ja so kommen, dass wir in Zeiten der Digitalisierung analoge Tätigkeiten wie Stallausmisten oder Kartoffelnausbuddeln als etwas Besonderes, etwas Wertvolles schätzen. Richtige echte 3D-Arbeit!

Erinnert Ihr Euch an die Geschichte von Tom Sawyer? Tom war von Tante Polly dazu verdonnert worden, den Gartenzaun zu streichen. Und irgendwie schaffte er es, dass nach einer Weile die Nachbarskinder Schlange standen und ein paar Cent bezahlten, um malern zu dürfen. Weil Malern nämlich Spaß macht. Und man den Erfolg sofort sieht.

Fürs Arbeiten bezahlen? So abwegig ist das gar nicht. Um auf einer Schweizer Alm eine Art Workation zu machen, darf man ein paar Tausend Franken hinlegen. (Ihr seht, ich hab’s recherchiert. 😛 ) Und auch meinen Freiwilligeneinsatz in einer südafrikanischen Grundschule habe ich fast wie einen normalen Urlaub gebucht. Arbeit mit Sinn ist offenbar so begehrt, dass Menschen bereit sind, sogar Geld mitzubringen.

2D-Arbeit

Das, was ich die meiste Zeit des Tages mache (und vielen von Euch wird es ähnlich gehen), ist: mit den Fingerkuppen auf Knöpfe hämmern. Egal, was dahintersteckt, ob ich einen Text schreibe, im Shop Bestellungen als „Verschickt“ markiere oder gerade die Welt rette, indem ich eine Suchanfrage statt über Google über Ecosia.org starte: am Ende sind es immer nur Finger, die über die Tastatur huschen.

Ecosia ist übrigens eine tolle Sache, denn diese Organisation pflanzt für jede Suchanfrage einen Baum. Oder lässt Einheimische irgendwo auf dem Planeten einen Baum pflanzen. Keine Ahnung, wer die pflanzt. Ich jedenfalls nicht. Ich klicke nur. Und durch einen Klick einen Baum zu finanzieren, ist eben nicht dasselbe wie sich einen Spaten zu greifen, ein Erdloch auszuheben, den Baum reinzusetzen, die Erde anzudrücken, ihn zu gießen und ab und zu mal nachzugucken, wie’s ihm so geht. Der Unterschied könnte größer nicht sein.

Selbst handeln und wirksam sein

Einen Baum zu pflanzen erfordert eine gewisse Kompetenz. Da sind bestimmte Bewegungsabläufe gefragt, man muss ein bisschen Kraft einsetzen und sich überlegen, was man wie und in welcher Reihenfolge tut. Selbstwirksamkeit und Handlungskompetenz nennen Wissenschaftler das, was uns in der digitalen Welt oft fehlt.

Also, nicht komplett fehlt, denn eine Website bauen, an einer Telefonkonferenz teilnehmen oder einen Text schreiben – das erfordert natürlich auch eine gewisse Handlungskompetenz. Aber wir erfahren sie nicht am eigenen Leib.

Wohl deshalb fühlen sich viele Menschen, obschon oder gerade weil sie hochgradig digitalisiert leben und arbeiten, zum Analogen hingezogen. Sie wollen irgendwas mit den Händen machen. Sie wollen nicht nur etwas schaffen, sondern auch das gute Gefühl genießen, etwas zu können. Zum Beispiel einen Baum pflanzen.

Beim Klicken oder Wischen machen wir so gut wie keinerlei sinnliche Erfahrung. Wir sind von der Arbeit noch viel weiter entfremdet, als es sich Marx überhaupt vorstellen konnte.

Erfolg zum Anfassen

Wie oft erzählen mir Leute: „Wir feiern unsere Erfolge gar nicht. Ein Projekt wird abgeschlossen – und zack kommt das nächste.“ Das war auch häufig meine Erfahrung im Job. Und selbst wenn man sich noch so viel Mühe gibt, Erfolge sichtbar zu machen und wertzuschätzen: Sie bleiben oft virtuell. Die Website ist online, der Text fertig, ein Orga-Projekt abgeschlossen. Da gibt es selten Erfolg zum Anfassen.

Dem Gartenzaun Latte für Latte einen frischen Anstrich zu verpassen, macht Spaß. Stiege für Stiege Kartoffeln auf den Anhänger zu kippen, bringt Erfüllung. Paket für Paket zur Post zu tragen, ist befriedigend. Warum ist das so? Weil wir den Erfolg körperlich spüren.

Studien zufolge ist es befriedigender, ein Papierbuch zu lesen als ein eBook. Der Grund: Wir spüren beim stetigen Umblättern, wie die linke Hälfte des Buches immer dicker und schwerer, die rechte Hälfte immer dünner und leichter wird.

Winzige Wahrnehmungen wie das sich verlagernde Gewicht des Buches in der Hand sind also die Bausteine, aus denen unser Gehirn Erfolg zusammensetzt. Der Fortschrittsbalken auf dem Bildschirm des eBooks ist kein greifbarer Erfolg.

Tast- und Körpersinn als Schlüssel

In der Psychologie hat man den Einfluss des Körpers auf Wahrnehmung und Erkenntnis lange unterschätzt. Mit anderen Worten: Man dachte, all das spielt sich hauptsächlich im Gehirn ab. Heute weiß man, dass Menschen die Welt von Anfang an be-greifen müssen.

„Wenn man nicht hinreichende Berührungsreize erfährt, dann reifen bestimmte Hirngebiete nicht. Körperreize sind der Motor für Hirn- und Körperentwicklung. Das ist belegt am Tier und am menschlichen Modell. Auf der anderen Seite ist das Tastsinnessystem auch das System, womit wir die Eigenschaften der äußeren Umwelt überhaupt erkennen, studieren und wahrnehmen können“, erklärt Hirnforscher Martin Grunwald vom Haptiklabor der Uni Leipzig in diesem Radiobeitrag über das Comeback des Analogen im digitalen Kosmos.

Kein Wunder, 70 bis 80 Prozent der Gehirnzellen sind mit den Händen verbunden. Unsere Hände sind also die engste Verbindung zwischen Gehirn und Welt – und damit zwischen Innen- und Außenwelt.

Es soll mir keiner sagen, dass es keinen Schaden anrichtet, wenn wir diese kostbaren Sinnesorgane mehrere Stunden am Tag für nichts anderes nutzen, als auf Tasten einzuhacken. Zumindest können wir einen sinnesträchtigen Ausgleich gut gebrauchen – mehr 3D-Leben statt 2D.

Und da mir das Buddeln so einen Spaß macht, habe ich mich entschieden, eine von rund 200 Mitbäuer*innen bei einem Bauernhof der Solidarischen Landwirtschaft zu werden. Ich unterstütze den Landwirt, indem ich ihm jede Woche einen Ernteanteil (-> lecker Essen!) abkaufe. Und darf dafür ab und zu in der Erde wühlen und etwas erfahren, was mir am Bildschirm fehlt.

Und klar, natürlich haue ich auch weiter in die Tasten. 😉

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Fotos: Unsplash.com (Titel), Lydia Krüger

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3 Kommentare

    • Hey, wie schön, meine Texte werden vermisst. ? Hatte Gründe, aber ich geb mir Mühe.

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