Ganz bewusst habe ich mir ein Leben gebaut, dass Stress weitgehend vermeidet. Das habe ich ganz klar mit Fokus auf meine Gesundheit getan, weil ich stark darauf reagiere. Früher habe ich immer gesagt: „Von meiner Konstitution her sollte ich eher Schafe hüten.“ Habe mir aber sagen lassen, das kann auch ziemlich hektisch werden, da Schafe gern mal ausbüxen. Natürlich bleibt es nicht aus, dass ich selbst gestresst bin, auch ich es mal eilig habe und irgendwo feststecke oder eine Deadline mir im Nacken sitzt. Oder sich seit Jahren um ein schwerkrankes Familienmitglied zu kümmern – das ist eine Dauerbelastung, die ans System geht. Aber ich glaube, im Vergleich zu den meisten Menschen habe ich echt wenig Stress. Umso stressiger ist es für mich, wenn mir Gestresste über den Weg laufen.
Richtig extrem ist mir das aufgefallen, als ich mich damals an der Uni beworben hatte für meinen Master und mit der Verantwortlichen telefonierte. Zu dem Zeitpunkt war ich im Urlaub auf Mallorca und als der Anruf kam, chillte ich gerade auf einer Holzbank. Ich war also auf 0 % Stresslevel und dann rief mich diese – wie sich später herausstellen sollte, ganz tolle – Frau an, um mit mir über meine Bewerbung zu sprechen. Und sie war so außer Atem und hektisch und ich voll urlaubsmäßig unterwegs. Sie war quasi mit dem Porsche unterwegs und ich mit nem Tretroller. Sie tat mir leid.
Und so ist es jetzt fast immer. Leute rufen mich an und pressen irgendwas zwischen den Zähnen hervor (was Stimme angeht, bin ich aus Gründen besonders aufmerksam) oder hecheln fast oder sind total zerstreut. Und ich sitze mit dem Laptop auf dem Sofa und denke nur: Oh Gott, so warst du auch mal drauf. Schrecklich.
Neulich war ich in einem abendlichen Videocall und alle waren ziemlich gestresst (weil Deadline!). Ich war selbst Gast und hatte jemanden eingeladen. Und was soll ich sagen, ich fand den Umgang ganz furchtbar. Sowohl mit mir als auch mit dem von mir mitgebrachten Gast. Ich habe mich echt gefragt: Spüren die sich noch? Es kann doch nicht sein, dass ich als einzige in der Runde fast sterbe vor Scham und Peinlichkeit. Klar, die waren gestresst, aber trotzdem.
Dazu muss ich sagen, dass ich möglicherweise auf einer Frequenz unterwegs bin, die sich anderen gar nicht erschließt. Von klein auf habe ich den Satz gehört: „Meine Güte, sei doch nicht so empfindlich!“ Bin ich aber nun mal. Wie viele Prinzessin-auf-der-Erbse- und Mimosen-Anspielungen ich mir als Kind anhören musste. Aber was soll ich machen? Ich habe lange versucht, das abzuschalten und unempfindlicher zu werden, aber das war eher kontraproduktiv.
Wenn mich als Kind jemand einmal richtig runtergeputzt hat, meine Urgroßmutter zum Beispiel oder eine Lehrerin, habe ich dieser Person nie wieder vertraut. Und das ist bis heute so.
Bis heute bin ich empfindlich bei schlechtem Essen, Geräuschen, Gerüchen, Licht. (Insofern ist es eine totale Quälerei, dass ich schon mein Leben lang in der Großstadt wohne. Und deshalb hat mich mein Besuch im Knast wahrscheinlich so erschüttert, denn dort ist all das gleichzeitig vorhanden – die Hölle auf Erden.) Ich liebe die Stille und ziehe sie sogar Musik vor.
Genauso empfindlich bin ich auf der zwischenmenschlichen Ebene. Ich habe beigebracht bekommen, immer höflich zu sein. Das war ein absolutes Muss in meinem Elternhaus. Und das fällt mir bis heute in so vielen Situationen auf die Füße. Weil ich einfach niemanden verletzen will, diplomatisch sein will, die Harmonie wahren und das Gesicht aller Beteiligten. Obwohl ich es ja nun schon so oft erlebt habe, gerate ich immer in eine Art Schockstarre, wenn jemand dampfwalzenartig dazwischenfährt.
Mit einem Freund zusammen habe ich dazu eine Theorie entwickelt. Wir haben darüber diskutiert, wieso manche Leute im Umgang so Scheiße sind und ob die sich zu Hause auch so aufführen. Wir sind darauf gekommen, dass es zwei Sorten von Menschen gibt: Diejenigen, die zu Hause höflich sind und draußen ein Arschloch 😀 – und die anderen, bei denen es umgekehrt ist. Und dann gibt es noch eine dritte Sorte, der alles scheißegal ist und die immer so ist, wie sie gerade ist, auch bekannt als Berliner*innen. Die klammere ich hier mal aus, weil da ist ja alles klar. 😀
Ich gehöre definitiv zur zweiten Gruppe: Ich bin immer höflich (OK, außer ich werde provoziert 😛 ) und zu Hause lasse ich los. Wenn ich jemanden richtig gut kenne (und umgekehrt), ist grundsätzlich alles erlaubt. Und da reden wir von einer einstelligen Personenzahl. Wenn ich aber jemanden gar nicht oder nicht gut genug kenne oder jemandem nicht zu 100 % vertraue, sondern nur zu 95 %, ist das Schild oben und ich bleibe höflich.
Was nicht heißen soll, dass ich mich nicht auch mal daneben benehme, zum Beispiel durch Desinteresse 🙁 , oder dass ich jemandem ins Wort falle, weil ich ganz dringend was loswerden muss, bevor ich es mit meinem löchrigen Gedächtnis gleich wieder vergesse. Ich habe auch eingeführt, dass ich einfach gehe, wenn ich gehen will. Das kann unhöflich wirken – ich kann mich aber nicht einzeln von 27 Leuten verabschieden, wenn ich todmüde oder überreizt bin.
Deshalb bin ich immer so geschockt, wenn Leute – in meinen Augen – extrem unhöflich sind. Zum Beispiel sich im Videocall mit nem frechen Spruch vordrängeln, obwohl ich schon seit 5 Minuten die Hand gehoben hatte. Oder jemanden zwingen wollen, eine Sprache zu benutzen, die er nicht gut genug beherrscht. Interkulturelle Sensibilität, my ass! Mich werfen solche Momente (Fachausdruck: Mikroaggressionen) immer wieder aus der Bahn – auch wenn ich denke, ich sollte alt genug sein, um mich zu wehren.
Im Gegenteil wird meine Höflichkeit von manchen als Schwäche gedeutet oder, noch schlimmer, als Freifahrtschein zum Arschlochsein. Huch, das reimt sich! 😀 Wird vielleicht der nächste Mallorca-Hit: „Ich hab nen Frei-fahrt-schein …“ 😀
Vor Jahren erzählte eine Bekannte, sie hätte jetzt endlich herausgefunden, was mit Mann und Kind los sei: Beide seien hochsensibel. Die Kriterien, die sie aufzählte, trafen alle auf mich zu. Und auf meinen Vater. Hm, dachte ich, das klingt wie ne Ausrede oder Modediagnose. Eher wie eine Schwäche. Tatsächlich ist Hochsensibilität wissenschaftlich nicht validiert – anders als z. B. Introversion. Ich hatte mich sogar mal geweigert, einen Artikel für ein großes Nachrichtenportal darüber zu schreiben, weil es mir zu blöd war.
Das Konzept wurde von einem Wissenschaftlerpaar „entdeckt“ und seitdem vermarktet. Vielleicht fehlt es aber auch nur an weiterer Forschung, damit ein Schuh draus wird.
Sensibilität nach innen und außen müssen übrigens nicht übereinstimmen, denn oft legen sich gerade besonders sensible Menschen einen Panzer zu, um nicht ständig überreizt oder verletzt zu werden, und wirken dadurch härter. Besonders unter Stress.
Keinen Stress zu haben, bedeutet für mich daher auch, sensibel sein zu dürfen und zu spüren, was gerade abgeht. Das ist manchmal ziemlich verrückt in einer Welt, in der viele dauernd unter Strom stehen und nix mehr merken. Aber mir ist es lieber so – auch wenn es manchmal weh tut.
Foto von Chris Zhang auf Unsplash


Wow, das kenne ich nur zu gut! Endlich jemand, der das so sagt – ich bin ja auch immer diejenige, die alles spürt und höflich bleiben muss. Das mit der zweiten Gruppe找到我的感觉太对了! 😄 Danke für diesen beruhigenden Text!
Absolut relatable! Die Beschreibung der Scheiße zwischenmenschlichen Umgangs ist goldrichtig. Besonders die Theorie mit den Gruppen finde ich klasse – passt bei mir zu 100 %. Und ja, manchmal muss man sich wirklich wehren oder einfach gehen. Das ist okay!