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Sieg über die Esoterik

Wie viele im Osten bin ich als Atheistin aufgewachsen. „Es gibt keinen Gott, das ist alles Quatsch, ein Hoch auf die Wissenschaft!“ Diesen Botschaften hörte ich in der Schule und zu Hause. Religion galt als Opium für das Volk, Esoterik und „paranormale Phänomene“ wurden als unwissenschaftlich angesehen. Kurz vor dem Mauerfall wurde ich sogar Mitglied bei den Freidenkern, einem neu gegründeten nichtreligiösen Verein. Irgendwie hatte mich wohl der Begriff des freien Denkens angezogen.

Die DDR lag bereits in den letzten Zügen, aber das wussten wir natürlich nicht – wir hatten ja keine Glaskugel. Damals war es eine kleine Sensation, dass überhaupt ein neuer Verein zugelassen wurde. Schnell sprach sich herum, dass die Freidenker von der Stasi unterwandert waren und vor allem dazu dienen sollten, oppositionelle Kräfte einzuhegen. Ich ging trotzdem hin und betrieb mit meinem besten Freund ein kleines Café in den Räumlichkeiten des Vereins. Nach dem Mauerfall konnte ich als Sektenbeauftragte meiner Leidenschaft für Sekten frönen, die – wie stets in Zeiten der Krise – Hochkonjunktur hatten.

Esoterik: Kitt in Krisenzeiten

Psychologisch ist das clever: Brüche im Lebenslauf und gesellschaftliche Krisen sind die beste Zeit, um Menschen für neue (und abstruse!) Ideen zu gewinnen. Jedenfalls konnte man damals kaum über den Alex schlendern, ohne nacheinander von Hare Krishnas, der Moonsekte, den Kindern Gottes oder den Zeugen Jehovas vollgetextet zu werden. Bei den Hare Krishnas wäre ich um ein Haar schwachgeworden, weil die einen ständig zum kostenlosen Essen eingeladen haben. Leider nur vegetarisch, das verfing dann doch nicht bei mir. 😀

Dem nichtreligiösen, wissenschaftsbasierten Denken blieb ich weiter verbunden. Nicht, dass es in meinem Leben keine Berührung mit Religion gab. Als Kind in Russland habe ich eine Menge orthodoxer Kirchen von innen gesehen. Ich mochte den Weihrauch, das Gold und die Gesänge und bewunderte die Ikonen. Aber immer, wenn ich mehr wissen wollte, ging es gründlich schief.

Kirchen-Hopping in den USA

Als ich in den USA lebte, hatte ich mal eine besonders bekloppte Idee: Ich wollte verschiedene Kirchen abklappern, um mir einen „Überblick“ zu verschaffen über die ganzen Splittergruppen dort: die Presbytarier, Unitarier, Baptisten usw. Dafür hatte ich ausgerechnet meinen jüdischen Bekannten Steve, der für jeden Quatsch zu haben war, als Mitstreiter gewonnen.

Steve und ich dachten, wir könnten uns in die Kirchen einschleichen und einfach zusehen. Aber schon beim ersten Gottesdienst, ich glaube, bei den Methodist*innen, mussten wir aufstehen und uns mit Namen vorstellen. Ein Jude und eine ostdeutsche Ex-Kommunistin! Der Missionierungseifer der Gemeinde war entfacht. 😀 Aber erst mal betete sie für unsere armen Seelen. Als sehr unangenehm habe ich in Erinnerung, dass wir dabei unsere Sitznachbar*innen umarmen mussten. Würde man heutzutage auch nicht mehr machen, hehe.

Wir beide fanden das alles äußerst peinlich und hatten uns mit Blicken verständigt, dass wir schleunigst das Weite suchen wollten. Aber am Ausgang stellte sich der Pastor uns in den Weg und versuchte aufs Unangenehmste, uns als Follower zu gewinnen. Nur mit Mühe schafften wir es abzuhauen, bevor sich der Rest der Gemeinde auf uns stürzen konnte. Das Projekt „Checking out christianity“ war gescheitert. 😀

Religion und Ästhetik

Ich gebe zu, dass auch ich in Momenten der Verzweiflung mal in eine Kirche gegangen bin – um mich zu sammeln oder bei einem Orgelkonzert ein bisschen zu heulen. Oder einfach, um die Schönheit zu genießen. Als ich das erste Mal in Rom war, der Mutter aller Städte, hat es mich richtig umgehauen. Als Berlinerin ist man ja Schönheit nicht so gewohnt. Die Vatikanischen Museen verließ ich mit den dramatischen Worten: „Noch drei Tage länger in Rom und ich werde katholisch!“ Mit Schönheit kriegt man mich fast genauso schnell überzeugt wie mit Essen.

Auch wenn ich – allein durch den Alltag in Deutschland – christlich sozialisiert wurde, hat mich diese Religion inhaltlich nie angesprochen. Diese Sprache ging komplett an mir vorbei. Und dann die Rückständigkeit! In Gambia verließ ich mal einen Gottesdienst, als der Geistliche verkündete, Frauen müssten bei ihren prügelnden Männern bleiben, denn dort sei ihr Platz. Yeah, right!

Dazu diese, ähem, morbide Bildsprache, bisschen scary. Das Judentum fand ich ganz faszinierend – allein schon, weil es so viele Vorurteile dazu gab, musste ich mich damit beschäftigen. Und wegen der sexy Schläfenlocken. Aber all die Regeln! Warum sollte man sich selbst das Leben so schwer machen? Das gibt wiederum einen Punkt für das Christentum: Man darf essen und trinken, was man will. Vielleicht ist das ja das Erfolgsgeheimnis dieser Religion? 😉

Ausflug in die Esoterik

Oft hatte ich das Gefühl, nicht zu wissen, wohin mit meiner Spiritualität. Irgendwie musste es noch mehr geben als die nüchterne Welt der Fakten. Aber klar war auch, dass organisierte Religion nicht mein Ding war. Erinnert Ihr Euch daran, was ich weiter oben über Brüche in der Biographie erzählt habe und wie Sekten sie nutzen? Im Grunde war es bei mir ähnlich.

Bei meinem ersten Burnout ging es mir körperlich und seelisch so schlecht, dass ich mich an eine Kollegin wandte, die Erfahrung mit Esoterik hatte – ein Thema, um das ich bis dato einen großen Bogen gemacht hatte. Sie vermittelte mich an ihre Heilerin, die mich mit Bachblüten und Reiki wieder soweit stabilisierte, dass ich es schaffte, meinen Job zu kündigen. Muss man ja auch mal anerkennen.

Gleichzeitig erkannte die Heilerin mein großes Potenzial als zahlungskräftige Kundin, die vom Pendelseminar bis zum Reikikurs einiges mitmachte. Jaha, ich hab den zweiten Grad im Reiki. 🙂 Und tief in meinem Bücherschrank schlummern Bücher mit vielversprechenden Titeln wie „Das dritte Auge öffnen“.

Zu meiner Ehrenrettung möchte ich anbringen, dass all die Jahre über ein kleines Männchen in meinem Hinterkopf saß, das sich das alles mit einem skeptischen Grinsen angeschaut hat. Wie oft habe ich in der Reiki-Gruppe auf die Frage: „Spürst Du das?“ einfach mit „Hm, ja.“ geantwortet. Ich bekenne nun: Ich hab nix gespürt. Außer, dass es bisschen warm wurde, wenn die Hand von irgendeinem anderen Esoterik-Opfer auf mir ruhte.

Willkommen im Traum-Reisebüro

Ein Highlight war der Besuch bei einem Heiler in Norddeutschland. Was für ein Anfänger! Er hatte wohl nicht damit gerechnet, wie spirituell durchgenudelt ich schon war. Sein Produkt war eine billige Traumreise durch meinen Kopf. Hätte vielleicht lieber ein Reisebüro aufmachen sollen, der Junge.

Aber gut, als brave Pionierin versuch ich dann wirklich, da irgendwas zu sehen. Hab mich richtig angestrengt, durch mein Hirn zu reisen. Als ich merkte, dass es nicht funktioniert, hab ich mir irgendwas ausgedacht. „Lasst uns das hier irgendwie über die Bühne bringen, während jeder sein Gesicht wahren kann“ als Lebensmotto. 😀 Übrigens hatte ich eine Freundin dabei, die ihre Traumreise einfach abbrach und meinte, sie müsse ja wohl nichts bezahlen, da seine Methode offensichtlich nicht funktioniere. So geht’s natürlich auch.

Apropos bezahlen: Schätzungsweise 10.000 meiner hartverdienten Euros gingen im Laufe der Jahre drauf für Homoöpathie, Schlangengift-Cocktails, Akupunktur und irgendwelche Kurse. Und damit liege ich vermutlich noch im unteren Bereich.

Endstation einer spirituellen Reise

Nach dem zweiten Burnout (Ihr erkennt hier möglicherweise ein Muster 🙂 ) landete ich in einem buddhistischen Schweigekloster in Thailand. Ich ging sechs- oder siebenmal hin. Es war eine Gehirnwäsche, aber im positiven Sinne: Alles musste raus, das ganze westliche Bullshit-Denken. An dieser Stelle Props an den Buddhismus als Philosophie: Ich habe bisher kein Denksystem kennengelernt, das mir logischer erschien. Viele Mentaltechniken sind fast schon therapeutisch.

Ich mochte, dass der Buddha mir keine Erkenntnisse über mich oder die Welt aufs Auge drücken wollte, sondern mir beibrachte, wie ich selbst drauf kommen kann. Meine Lehrer*innen in Thailand hielten sich menschlich sehr zurück, um nicht als Gurus vereinnahmt zu werden. Für mich war das schwer – ich brauche die menschliche Verbindung, wenigstens ein bisschen. Als langjährige Schülerin mit „Hm, du kommst mir bekannt vor“ begrüßt zu werden, ist vielleicht eine schöne Übung in Egoauflösung, aber irgendwie auch ziemlich daneben.

Bei meinem letzten Schweige-Retreat in Thailand dann der Schock: In einem unserer Gespräche verletzte mich meine Lehrerin zutiefst. Kurz zuvor war mein Vater gestorben, ich hatte – wie wir Esoterik-Freaks sagen – alle Kanäle offen. Ich war verwundbar und sie stach den Dolch nicht nur in die offene Wunde, sondern drehte ihn auch noch ein paarmal hin und her. Wie kann jemand, der seit 30 Jahren mitfühlendes Verständnis lehrt, so drauf sein?

Ich spürte einen unbändigen Hass in mir aufsteigen. Was zur Hölle passierte mit mir?! Wir waren in einem buddhistischen Kloster und während der Meditation stellte ich mir vor, wie ich meine Lehrerin ganz langsam abmurkste. Ich hatte das natürlich zu keinem Zeitpunkt vor, aber mein Kopf spielte verrückt. Und meine Lehrer hatten mir ja beigebracht, wie ich meine Gedanken beobachten konnte.

Ich war kurz davor, den Retreat abzubrechen. Aber Pionierin, die ich bin, zog ich es durch, schluckte meine Rachefantasien runter und versuchte später sogar eine Art Versöhnung. Aber der Zauber war weg. Aus. Seitdem habe ich nie wieder meditiert. Das ist schade, denn die Meditation als Technik hat mir extrem viel gegeben. Vielleicht komme ich ja wieder an den Punkt.

Tanz um den Baum

Parallel hatte ich in Berlin einen Lehrer gefunden, der ganz anders war, viel menschlicher, viel offener für verschiedene Strömungen des Buddhismus, der Psychologie und Neurowissenschaft – und der Esoterik. Mit ihm fuhr ich nach Indien, besuchte die historischen Stätten, warf mich im weißen Gewand auf den Boden. Indien ist der Hammer, es platzt fast vor spiritueller Energie und Farbe. Kein Wunder, dass die Hippies sich dort immer wohlgefühlt haben.

Aber während all der Zeit saß das Männeken in meinem Hinterkopf und grinste. Einmal standen wir vor dem Gandhi-Museum in Neu-Delhi herum – wir waren zu früh dran und mussten warten. Da machte unser Lehrer einen Vorschlag: Wir könnten doch ne Runde um den großen Baum davor tanzen und ein Mantra singen. Das war eines der wenigen Male, wo ich rebellierte. Ich mach mich doch nicht vor irgendwelchen indischen Passant*innen zum Affen! 😀

Aber es gab noch etwas, das mich störte – im Buddhismus genauso wie in der Esoterik: Ständig wurde man auf seine Defizite reduziert. Das kannst du ja noch nicht und daran musst du noch arbeiten und was, du spürst nichts?? Statt selbstbewusster zu werden, hatte ich oft das Gefühl, diesem hohen menschlichen Standard niemals genügen zu können. Wir sind und bleiben doch Menschen: inkonsequent, widersprüchlich und fehlerbehaftet. Nicht einmal die Lehrer*innen selbst schaffen es, ihrem eigenen Standard zu entsprechen. Unzählige Geschichten über (Macht-) Missbrauch und Versagen zeugen davon.

Als das Coronavirus anfing, sich zu verbreiten, beharrte mein Lehrer viel zu lange darauf, dass wir uns weiter in den Räumen der Gemeinschaft treffen. Es sei wichtig, dass wir ZUSAMMENRÜCKEN und gemeinsam gegen das Virus meditierten. Fun fact: Mein Lehrer ist Arzt und damit Naturwissenschaftler. Damit hatte sich auch das für mich erledigt.

Vielleicht hat es mit meinem Psychologiestudium zu tun, mit meiner wiederentdeckten Leidenschaft für Wissenschaft. Oder damit, dass ich sehe, wie Esoterik Menschen in Verschwörungsglauben abdriften lässt. Wie die lange trainierte Fähigkeit, irgendwas zu glauben, ohne auch nur einen einzigen Beweis zu kennen, sich als Einfallstor für jegliches Geschwurbel erweist.

In diesem Sinne knüpfe ich jetzt an meine atheistische Vergangenheit an. Ich bin da, wo ich vor 30 Jahren schon mal war – nur ein bisschen weiser.

Photo by Mohamed Nohassi on Unsplash

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8 Kommentare

  1. Juhuu! Welcome back! Und vielen Dank für deinen faszinierenden Reisebericht in die Welt der Esoterik. Ich konnte mich dazu als ebenfalls atheistische Ostdeutsche irgendwie nie bringen. Spiritualität habe ich bis heute irgendwie nie entwickelt.

    lg,
    Sarah

    • Ich war doch nie weg. 😉 Ist halt die Frage, was Spiritualität überhaupt ist. Ich finde das in der Natur und in mir selbst.

      • Ich meinte welcome back bei den Atheisten.:D Und ja, da gebe ich dir recht, ich glaube Spiritualität muss jeder für sich selbst definieren. Für mich selbst habe ich da einfach nie irgendeine Form oder Definition gefunden, die für mich passt. Wobei vielleicht andere Menschen Dinge, die ich vielleicht einfach so mache, weil sie mir Freude machen, spirituell nennen würden. Ach, keine Ahnung.

  2. Das Leben verläuft in Kreisläufen sagen einige.
    Der Kern des Buddhismus sei das loslassen, sagen die anderen.

    Was gibt Dir das Pionier-Sein, dass Du es so fest hältst, Lydia? 🙂

  3. Hm. Ich mag Esoterik. Vielleicht hat mich mein ehemaliger Katholizismus und mein „Fremdgehen“ im Protestantismus geschützt, dass ich nachdem ich aus der katholischen Kirche austrat, nicht von diversen esoterischen Strömen vereinnahmt wurde.
    Ich hatte meinen christlichen Gottglauben verloren, aber nicht wirklich den Gedanken, dass es irgendwas da draußen geben könnte. Agnostizismus ist dann meins geworden. Zusätzlich noch Konstruktivismus und Feminismus. Deshalb schaue ich mir genau an, wer und was mir da geboten wird.
    Ich kann ein bisschen Tarot und Astrologie. Meditieren habe ich durch einen MBSR-Kurs „gelernt“ und übe seit 3 Jahren.
    Esoterik stellt für mich auch die Frage, was will ich damit? Und wenn ich in einer Meditation, nachdem ich darum gebeten habe – eventuell mein Totemtier zu sehen und dann tatsächlich eines Tieres ansichtig werde, von dem ich die esoterischen Hintergründe nicht wusste und die dann so gut in mein Leben passen, dann macht es halt nur Spaß.
    Für mich sind esoterische Handlungen immer nur ein Impulsgeber. Vor allem in Zeiten, wenn die Gedanken in einer Sackgasse sind oder stets nur um ein Thema kreisen, eine schöne Möglichkeit einen anderen Blick zu erhalten.
    Aber das ist nur (m)ein Weg. 😉
    Ich fand es spannend, deinen Weg zu lesen. 🙂

  4. irgendeine Userin

    P.S.: Das mit dem „Gedanken beobachten“ bei der Meditation interessiert mich sehr. Oja. Bin ja stets am Üben und Lernen. 🙂

      • irgendeine Userin

        DANKE !
        Wobei das „Vipassanā bezeichnet im Buddhismus die „Einsicht“ in die Drei Daseinsmerkmale Unbeständigkeit, Leidhaftigkeit bzw. Nichtgenügen und Nicht-Selbst.“, das ich auf einer Seite lesen darf, klingt schon heftig.
        Aber das soll mich nicht vom Weiterforschen abhalten. Bin gespannt, was ich noch so entdecke.

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