Neulich war ich wieder mal auf dem Weg in die Schweiz – das Land, in dem alles funktioniert. Ich hatte mich auf die 10-stündige Zugfahrt gefreut, denn ich wollte konzentriert an etwas arbeiten. Ich packte also mein Laptop aus und freudig begrüßte mich auf dem Bildschirm das ICE-Portal und pries das WLAN an. Aha, dachte ich, vielleicht ist es ja besser geworden. Pustekuchen! Irgendwann gab ich meine Internet-Recherche entnervt auf, denn das ICE-WLAN war extrem langsam. Aber Hauptsache, es GIBT ein WLAN, mit dem man überall WERBEN kann. Ich musste an die berühmten Potemkinschen Dörfer denken und wie beliebt sie mittlerweile in Deutschland sind.
Wir erinnern uns: Feldmarschall Potemkin (korrekterweise Potjomkin, denn das kyrillische betonte E wird zu einem Jo) soll farbenfrohe Kulissen von Dörfern errichten lassen haben. Damit wollte er vor dem Besuch der Zarin Katharina der Großen in den eroberten Gebieten (ja, damals schon und ja, in der Ukraine) lebendige Dörfer vorzutäuschen. Ganz so war es wohl nicht, aber bis heute hält sich die Legende – vermutlich, weil sie ein Körnchen Wahrheit enthält.
Auf dem Rücksitz vor mir entdeckte ich einen QR-Code, mit dem ich Feedback zum ICE-Portal geben konnte. Super, dachte ich, da kann ich meinen Unmut über das lahme WLAN loswerden. Wie zum Hohn dauerte es ganze 5 Sekunden, um von einer beantworteten Frage zur nächsten zu wechseln. 5 Sekunden sind online eine halbe Ewigkeit. Auch diese Umfrage war im Grunde ein Potjomkinsches Dorf.
Unternehmen auf Fürst Potjomkins Spuren
Unternehmen, vor allem HORGs, lieben Potjomkinsche Dörfer. Sei es das Innovation Lab im knöchernen Konzern, das einfach dazu dient, einen auf cool und modern zu machen – dank knallbunter Sessel und ebenso bunter Leute, die im Rest des Ladens gnadenlos untergehen würden. Sei es ein eierloser Betriebsrat oder die scheintote Gleichstellungsbeauftragte, die willenlos ihrem Rentenbeginn entgegendämmert. Sei es die Mitarbeiterbefragung, deren unliebsame Ergebnisse in der tiefsten Schublade entsorgt werden oder das Change Management, das vor allem dazu dient, Veränderungen vorzutäuschen, die natürlich keiner will. Jedenfalls nicht in der Chefetage.
Mitunter werden sogar neue Stabsstellen und Jobs erfunden, damit man jemanden unterbringen kann, den man nicht loswird. Man nennt sie dann „Projektkoordinierung“ oder so.
Oder man denke an KI. Jeder und sein Onkel muss jetzt unbedingt KI in seine Dienstleistungen integrieren – auch wenn es nervt und notfalls auf dem Klo. Ob es sich überhaupt um KI handelt, ist dabei zweitrangig. Hauptsache, es steht KI™️ drauf. KI bedeutet an dieser Stelle bloß, dass man ganz vorne mitspielt. Und vielleicht, dass man Angst hat, den Trend zu verpassen – egal, wie sinnvoll oder gar gefährlich die Technologie ist.
Zu voller Blüte kommen die Fake-Kulissen natürlich in Diktaturen. Das sollte uns nicht weiter verwundern, denn HORGs und Diktaturen haben bekanntlich einiges gemeinsam. In Nordkorea existiert ein Propagandadorf namens Kijŏng-dong direkt in der Demilitarisierten Zone, das nur von einigen Angehörigen der nordkoreanischen Armee bewohnt wird und wo automatisch das Licht an- und ausgeschaltet wird, um Leben zu simulieren. Im Dritten Reich wurde das KZ Dachau als eine Art Musterkolonie für Besucher*innen geöffnet, um die Harmlosigkeit der Lager zu beweisen.
Im Mutterland der Illusion
Es ist kein Zufall, dass Potjomkinsche Dörfer in Russland erfunden wurden, denn dort leben die Meister der Täuschung: Als in der Russischen Armee wurde bei den Berichten an die Führung zuviel gelogen wurde (ach was!), kam jemand auf die Idee, die Offiziere bestimmte Arbeiten und Ergebnisse fotografieren zu lassen. Das führte zu herrlich gestellten Fotoshootings, bei denen die Soldaten so richtig zeigen mussten, wie schweißtreibend sie schufteten.
Überhaupt ist bei den von Korruption und Veruntreuung nur so strotzenden Streitkräften Folgendes üblich: Ein neuer Offizier übernimmt, sagen wir, eine Panzerwerkstatt, von seinem Vorgänger. Dieser hat bereits wie üblich sämtliche Wertgegenstände zu Geld gemacht (für sein eigenes Portemonnaie, aber auch, um die Fassade des Gebäudes für den nächsten hohen Besuch streichen zu lassen – natürlich nur die Vorderseite). Der Neue bekommt also einen mehr oder weniger leeren Betrieb: ohne Werkzeug, ohne Ersatzteile.
Damit sein Vorgänger nicht auffliegt, lässt der sich quittieren, dass er die Werkstatt vollständig mit allem Drum und Dran übergibt. Und der Neue wird es genauso machen, wenn er irgendwann seinen Posten verlässt. Auf diese Weise wird die Potjomkinsche Panzerwerkstatt von Generation zu Generation weitergegeben. Die freigewordene Arbeitskraft der Soldaten kann dann gewinnbringend woanders eingesetzt werden, z. B. beim Bau der Datscha des Offiziers.
(Leider finde ich die Quelle nicht mehr – es war ein Bericht russischer Soldaten.) Keine Ahnung übrigens, wie dort kaputte Panzer repariert werden. Vielleicht kriegen sie einen großen Aufkleber, wo „Repariert“ draufsteht.
Auch die von den Russen bis zur Unkenntlichkeit zerbombte ukrainische Stadt Mariupol ist zum Potjomkinschen Dorf geworden: In der Mitte des Ortes wurden ein paar bunte Neubaublocks gebaut mit einem gruselig leeren Spielplatz in der Mitte. Influencer präsentieren immer dieses eine „Viertel“, wenn Russland beweisen will, wie toll es den Ort wieder aufgebaut hat. Mit günstigen Krediten lockt die Besatzungsmacht übrigens russische Siedler*innen in die neugebauten Wohnungen. Die Einheimischen müssen weiter in Ruinen leben.
Potjomkinsche Dörfer in den USA
Und jetzt haltet Euch fest: In den USA werden Potemkinsche Dörfer zum Trend. Etliche Tech-Unternehmen haben angekündigt, die „Produktion“ wieder in die USA zu holen. Im Minutentakt kommen die Ankündigungen herein, 50 oder gar 500 Milliarden US-Dollar im Land investieren zu wollen. Apple, Johnson & Johnson, Toyota & Co. werden also in den USA Fabriken aufbauen – auch wenn allen klar ist, dass es völlig illusorisch ist, so günstig und vor allem auch so hochspezialisiert wie in China zu produzieren.
Ich frage mich, ob dort auch geplant ist, Mitarbeitende einzustellen, die so tun, als würden sie arbeiten. Dann wären wir fast wieder in der DDR, wo mir ein Verwandter berichtete, dass er mal in einem Job jeden Tag einen Kohlehaufen von links nach rechts schaufeln musste – und dann wieder von rechts nach links. Hauptsache, er hatte Arbeit.
Abgesehen davon, dass viele der riesigen Investments sowieso schon geplant waren, und sich die Unternehmen einfach nur clever an den brandneuen Trend des, ähm, US-amerikanischen Faschismus dranhängen.
Noch mehr Ideen
Die Schaffung von sinnlosen Jobs wäre da nur konsequent, denn wie sagte schon Hannah Arendt:
Eine Welt, in der den Menschen beigebracht wird, dass sie überflüssig sind, und wo es Arbeit gibt, ohne dass ein Produkt daraus entsteht, ist ein Ort, wo Sinnlosigkeit täglich neu produziert wird. Doch für die totalitäre Ideologie kann nichts sinnvoller und logischer sein.
Totalitäre Staaten bieten ganz neue Möglichkeiten des „so tun als ob“: Man tut so, als würde man Trump unterstützen. Man tut so, als wäre man ein „Patriot“ – aka vorauseilender Gehorsam. Man tut so, als würde man etwas Sinnvolles für das Land/das Volk/die Wirtschaft tun.
Deutschland kann noch einiges lernen, was Potjomkinsche Dörfer angeht. Ideen gäbe es viele: Atommeiler-Kulissen, die nur für Fans dieser teuren und gefährlichen Technologie gebaut werden. E-Fuel-getriebene Autos, die man nur in deutschen Talkshows und den Hirnen von Unionspolitikern antrifft. Oder überflüssige Forschung mit vorhersehbaren Ergebnissen, die nur dazu dienen soll, die wissenschaftsfeindlichen Ansichten bestimmte Interessengruppen zufriedenzustellen. Moment, das gab’s ja schon! Und der Trend wird sogar in den USA kopiert …
Also, Augen auf! Die große Zeit der Potjomkinschen Dörfer ist angebrochen. 🙂
Foto: Larry Wiseman, Unsplash