Zum Inhalt springen

Pandemie: Gute Zeiten, schlechte Zeiten

In Zeiten der Pandemie gibt es drei Sorten Mensch: Die einen stecken den Kopf in den Sand und wollen gar nicht wirklich wissen, was los ist. („Alles so schrecklich, mach bloß den Fernseher aus.“) Die anderen leisten trotzig Widerstand und leben ihren Egoismus aus, wenn Gemeinsinn gefragt ist. In Asien nennt man das die „europäische Arroganz“. Und dann gibt es noch Menschen, die die Entwicklung aufmerksam verfolgen und versuchen, ihr immer einen Schritt voraus zu sein. Zu denen zähle ich wohl.

Bei mir herrscht schon längst Ausgangssperre. Ich bewege mich nur noch draußen, wenn es notwendig ist. Fassungslos sehe ich Menschen, die plaudernd an den Straßenecken stehen, mal mit mehr, mal mit weniger Abstand. Das ist doch unnötig. Lasst es doch einfach, nur für ein paar Wochen. Ruft einander an, facetimet oder skypet. Wir haben doch so viele Möglichkeiten, Kontakt aufzunehmen – es ist eben nicht wie im Knast und auch nicht wie 1918 bei der Spanischen Grippe. Wir haben viel mehr Komfort (die einen mehr, die anderen weniger – schon klar), um eine solche Zeit gut zu überstehen.

Es sind gute Zeiten für Introvertierte. Manchmal kommt sogar etwas Schadenfreude bei mir auf, dass die Extros sich jetzt endlich mal an unsere Welt anpassen müssen. Ich gebe zu: Mir gefällt das, die (zumindest unter der Woche) leeren Straßen, die Ruhe draußen. Berührungsverbot und Abstand halten find ich auch ganz angenehm eigentlich. Überlege, mir ein T-Shirt zu machen:

Social distancing since 1972

Mit Grausen sehe ich den Aktionismus im Netz, wie jetzt plötzlich alle Lesungen und Konzerte streamen und Seminare und weiß der Geier was im Netz organisieren, Yoga machen und sich für Sprachkurse anmelden. Bloß keine Langeweile aufkommen lassen, die Zeitvertreiberei muss weitergehen, wenigstens virtuell. Nicht, dass man noch gezwungen ist, mal über das Leben nachzudenken, hehe. Da könnte man dann nämlich auf einige steile Thesen kommen. (BTW Blogempfehlung für Frau Ruth!)

Es sind schlechte Zeiten für Extrovertierte. Ich kann gar nicht anders, als Mitgefühl zu haben. Diese Persönlichkeitstypen ziehen ihre Energie aus der Begegnung mit anderen Menschen. Die sind jetzt von ihrer Kraftquelle abgeschnitten. Das wäre so, als würde man mich wochenlang in eine Party-WG stecken, ohne Rückzugsmöglichkeit, am besten noch mit durchgängiger Musikbeschallung und Kindergeschrei. Der Horror.

Ich habe einfach Glück, dass ich gut gerüstet bin für diese verrückte Zeit. Kennt Ihr diese Stelle in Filmen, wenn die Agentin nach der Ausbildung ihren ersten Auftrag kriegt? Und dann ihren Rucksack aufsetzt und entschlossen flüstert: „This is what I’ve been training for.“ So fühle ich mich. Als hätte ich jahrelang für genau diese Zeit trainiert. Endlich sind meine Kompetenzen gefragt. Homeoffice? Mache ich seit fünf Jahren. Zu Hause bleiben? Kann ich gut. Allein sein? Alle meine Schweige-Retreats zahlen sich jetzt dermaßen aus. 😀

Dass ich verschiedene berufliche Standbeine habe, hat immer etwas genervt, wenn mich jemand gefragt hat, was ich beruflich mache: „Ja, also, Texte, Lektorat, Übersetzungen, Vorträge, Seminare …“ Jetzt bin ich froh drüber. Natürlich weiß ich, dass es vielen anderen nicht so geht. Dass gerade Existenzen auf dem Spiel stehen. Dass Leute mit psychischen Krankheiten gerade am Durchdrehen sind. Und ich will jetzt nicht davon anfangen, dass wenn etwas stirbt, immer etwas Neues geboren wird. Auch wenn es interessante Zukunftsszenarien dazu gibt.

Ich verschlinge die Nachrichten aus aller Welt, bis sie mir fast schon wieder hochkommen. Hab mir ein Buch bestellt über Viren, 101 Steckbriefe, nach dem Motto „Kenne deinen Feind“, hehe. (Zusammenfassung: Viren sind voll die Gangster.) Ich gucke die Pandemie-Doku auf Netflix (bisschen lahmer Plot, kann mit den Nachrichten nicht mithalten).

Und dann hab ich noch ein Fachbuch entdeckt, „The Psychology of Pandemics“. Der Autor, der kanadische Psychologe Steven Taylor, hat ewig keinen Verlag gefunden. Ach, Pandemien, hieß es. Wen interessiert das schon, das passiert einmal in 100 Jahren. Im Dezember 2019 kam das Buch raus, am 31. Dezember meldete China der WHO eine ungewöhnliche Lungenkrankheit … Ich werde hier darüber bloggen. Vielleicht können wir was daraus lernen. Ich will einfach aus allem was lernen, ich bin so hungrig.

Es sind schlechte Zeiten, um etwas zu vertuschen. Die Pandemie wirkt wie ein Vergrößerungsglas. Sie deckt auf, wo wir uns etwas vormachen. „The Coronavirus called America’s Bluff“, schreibt Anne Applebaum im Atlantic. Die Krise reißt den Teppich weg, unter den wir den Dreck der letzten Jahrzehnte gekehrt hatten. Alles, was wir als Gesellschaft versäumt haben, fällt uns jetzt auf die Füße:

Das kaputtgesparte Gesundheitssystem.

Der Personalmangel in systemrelevanten (Ist das schon Wort des Jahres?) Berufen.

Die Notaufnahmen, die schon im „Normalbetrieb“ ein Disaster waren.

Der mangelnde Schutz vor Gewalt für Frauen und Kinder.

Die fehlende Betreuung für psychisch Kranke.

Die beschissene Bezahlung von Frauen, besonders in den systemrelevanten Jobs.

Die nicht existente Absicherung für Selbstständige.

Die verschleppte Digitalisierung.

Die vielen Bullshitjobs, wo jetzt auffällt, dass sie eigentlich gar nicht gebraucht werden.

Föderalismus-Hick-Hack.

„Beschäftigte“, die nie gelernt haben, wie man selbstständig arbeitet, wie man sich selbst organisiert und motiviert.

Unflexible Unternehmen.

Fehlende Solidarität und Vereinzelung.

Dass man den Leuten eingetrichtert hat, Shoppen sei ihr Lebenszweck.

[Edit, weil vergessen:] Eine abartige Bürokratie, siehe auch: 200.000 Selbstständige befinden sich in der Warteschleife des Berliner Online-Antragsverfahrens für die – wait for it – Corona-Soforthilfe. Habe das korrigiert, da schlechtes Beispiel. Ich habe einen Tag in der Warteschleife verbracht und dann hat tatsächlich alles gut funktioniert. Deutschland scheint lernfähig in der Krise. 😉

[Edit:] Ein Schulsystem, das den Bildungserfolg von der Herkunft abhängig macht.

Die Unfähigkeit der Politik, klar zu kommunizieren.

Gleichzeitig muss ich sagen, dass ich selten so ein Vertrauen in die Politik hatte. Bei der ersten Pressekonferenz zu Corona, als es hieß: Leute, wir haben die Kohle und wir ballern sie jetzt raus, wir lassen niemanden zurück – da dachte ich, ich höre nicht richtig. Plötzlich hatte ich so ein wohliges Gefühl. Dieser Staat liebt mich, dachte ich. Ich bin denen doch nicht scheißegal. Die tun was, um uns alle zu schützen.

Das ist wirklich eine neue Erfahrung. Die Politiker*innen scheinen aus einer Starre erwacht zu sein. Endlich können sie handeln, endlich gibt es etwas, das man unter Kontrolle bringen kann. Endlich sind ihre Kompetenzen gefragt. Ich bin froh, dass wir die Kanzlerin haben und nicht so einen Clown wie Johnson oder Trump, und Spahn als Gesundheitsminister, von dem ich fachlich sehr viel halte, und sogar der ewig näselnde Lauterbach, der als Epidemiologe plötzlich gefragt ist. Und natürlich unser aller Lieblings-Drosten.

Dank Claudia Haessy (Blogempfehlung!) bin ich auf die Risikoanalyse zum Bevölkerungsschutz von 2013 gestoßen. Und ja, es ist einerseits beunruhigend zu lesen, dass eine Pandemie das mit Abstand größte Risiko für die Bevölkerung ist. Es liest sich gruselig, wie im Pandemie-Szenario fast exakt die aktuelle Sitation durchgespielt wurde: ein SARS-Virus, das sich von einem Markt in China aus über die ganze Welt verbreitet.

Aber es ist auch beruhigend, sich daran zu erinnern, dass da draußen Leute sind, die sich ihr ganzes Berufsleben lang mit genau diesem unwahrscheinlichen Fall, diesem Jahrhundertereignis Pandemie, beschäftigt haben. Das macht das Internet mit seiner Transparenz nämlich auch mit uns: All die Fachinformationen, die eigentlich gar nicht für die breite Masse bestimmt sind, sondern für Expert*innen, verunsichern uns. Sie eröffnen eine neue, spannende (Fach-)Welt. Gleichzeitig können wir sie überhaupt nicht einordnen.

Erinnern wir uns daran, dass es Menschen gibt, die genau wissen, um wie viel Prozentpunkte die Infektionskurve abgeflacht wird, wenn Schulen geschlossen oder Tests ausgeweitet werden. Die sich längst ihren Rucksack aufgesetzt haben mit dem Satz: „This is what we’ve been training for.“

Photo by Jay Wennington on Unsplash (bearbeitet)

Bitte folgen Sie mir unauffällig!

Auf Twitter und Facebook.

6 Kommentare

  1. Carrie

    Drosten sagte übrigens, dass der Föderalismus uns zu Gute kommt, weil wir durch ihn mehr Ressourcen haben, z. B. was die Teststellen angeht. In Italien haben die z. B. nur eine Behörde/Stelle, die sagt, was gemacht werden muss. Wir haben durch den Föderalismus eine Diversität, wie wir sie seit Jahrzehnten versuchen durch Teamarbeit (erinnert ihr euch: Ein Team potenziert die Ideen der Einzelnen.) in Unternehmen zu erreichen. Also ich empfinde das gerade als sehr gut, auch wenn es zunächst so scheint, als wenn jeder sein eigenes Süppchen kocht, aber am Ende werden sie alle voneinander lernen.

  2. Hans Jörg

    Uff, wie wohltuend, mir gehts 100% genauso und ich hatte ja schon fast ein schlechtes Gewissen, dass man diese Entschleunigung auch geniesen kann statt ständig rumzujammern wie schrecklich das alle ist, ohne arbeiten zu müssen zu Hause bleiben zu können und endlich mal alles zu erledigen wozu man sonst ja nie kommt :-). Mein Tipp: Einkommenssteuererklärung 2019, dazu ein Teechen und im Hintergrund läuft die Nonstop-Corona Beschallung aus dem Radio. Es gibt Schlimmeres auf der Welt.

    • Neeva

      Es sei dir von Herzen gegönnt. Ich sitze zuhause und muss sehr wohl arbeiten, auch die übliche Stundenzahl, während ich gleichzeitig den Ausfall von Grundschullehrkraft und Hortbetreuung auffange. Zusammen mit „dem bisschen Haushalt“, der sich durch die Daueranwesenheit aller Familienmitglieder etwa verdoppelt, mache ich gerade drei Jobs. Nichts mit Entschleunigung. Auch nichts mit Ruhe und Rückzug, das Kind ist altersgemäß extrovertiert. „Mama, guck mal!“

      Ach ja, der Mann hat Halskratzen und bis in sechs Tagen das Testergebnis da ist, dürfen wir nicht mehr aus der Wohnung raus. Also mal sehen, wie lange das frische Gemüse noch reicht…

      Wenigstens brauche ich mir keine Gedanken machen, dass ich mit dem nächsten fadenscheinigen Vorwand die Kündigung auf dem Tisch habe.

      • Lydia

        Also, mit Entschleunigung und mal in Ruhe ein Buch lesen ist bei mir auch nix… Viel zu tun! 😁Halte durch, ich drücke Euch die Daumen, dass der Test negativ ist.

  3. Christoph

    Einmal mehr ein toller Text! Vielen Dank und liebe Grüsse nach Berlin.

  4. Rita D.

    Herzliche Grüße nach Berlin. Der Text ist wieder super. Die Chance jetzt aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen sollten wir als Gesellschaft nutzen. Hoffentlich hält dieser Wille auch noch an, wenn die Corona- Kurve wieder abgeflacht ist. Es geht im Gesundheitswesen eben nicht nur ums Geld . Alles immer billiger haben zu wollen rächt sich. Atemschutzmasken, Desinfektionslösungen, Wirkstoffe für Arzneimittel u.A. nicht mehr in Deutschland zu produzieren ist zwar billiger, macht im Krisenfall aber abhängig. Lernen wir jetzt daraus?
    Ich wünsche es uns…
    Rita aus Sachsen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert