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Meinung vs. Bildung

Je mehr ich mich mit Wissenschaft beschäftige, desto mehr fahre ich darauf ab. Wie Wissenschaft Wissen schafft, das fasziniert mich. 🙂 Wobei ich auch sagen muss, dass die Wissenschaft einen eher schlechten Job gemacht hat, wenn es darum geht, den Rest der Gesellschaft mitzunehmen. Die Forscher*innen forschen so vor sich hin – aber wir kriegen wenig davon mit. Schon in meinem Masterstudium war ich erstaunt, dass es ja wissenschaftliche Erkenntnisse zu Marketing und PR gibt. Ach, was! Man weiß ziemlich genau, was bei wem wie wirkt. Leider interessiert das die meisten Werbetreibenden nicht. Stattdessen heuern sie irgendwelche Berater an, die ihnen für teures Geld ihr Bauchgefühl verkaufen.

Daran krankt unsere Gesellschaft: Viele haben eine Meinung (oder ein Bauchgefühl), wenige haben Wissen. Und dann sind die Meinungsinhaber*innen beleidigt, wenn man ihre selbstgestrickte, nachgeplapperte oder ausgeleierte und seit 20 Jahren widerlegte Meinung nicht hören will. Dass man sich dank Internet jederzeit an einem überbordenden Buffet von Wissen selbst bedienen kann, ist ein Riesenfortschritt. Mir scheint aber, dass zu viele Menschen das nicht nutzen.

Vor einiger Zeit habe ich einen hammermäßigen NDR-Podcast gehört, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht. (Falls ihr den oben verlinkten Podcast lieber selber hören wollt, einfach die kursiven Absätze überspringen.)

Ein Postbote macht Politik

Es ging um den Bürger*innenrat in Irland. Solche Räte gibt es mittlerweile in vielen Ländern. Sie bestehen aus meist zufällig ausgelosten Bürger*innen, die sich über mehrere Wochen intensiv (und auf wissenschaftlicher Basis) mit einem Thema auseinandersetzen. Sie erarbeiten konkrete Handlungsempfehlungen, die sie dann der Politik übergeben. Der Vorteil ist: Sie sind unabhängig und müssen sich weder um ihre Wiederwahl Gedanken machen, noch lassen sie sich von Lobbying beeinflussen.

Bürger*innenräte haben auch den Vorteil, dass sie der Politik schwierige Entscheidungen abnehmen können. Deshalb gibt man ihnen gern heikle Themen wie Abtreibung oder Klimaschutz. In Irland ging es um die Ehe für alle. Einer der ausgelosten Bürger war der Postbote Finbarr O’Brien, eine Art Wutbürger. Erst wollte er gar nicht mitmachen, aber dann fühlte er sich doch verpflichtet, sich als Bürger einzubringen. Wenn er schon mal gefragt wurde. Finbarr hasste nicht nur Politiker*innen, sondern auch Homosexuelle. Das hing damit zusammen, dass er als Kind missbraucht worden war und da wohl etwas durcheinandergebracht hatte. Man könnte also sagen, mit Finbarr hatte man den Bock zum Gärtner gemacht: Ein Politik- und Homohasser sollte über die Ehe für alle entscheiden.

Doch zuvor musste er sich über Wochen und Monate ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen. Sachverständige traten auf und erklärten die wissenschaftlichen Hintergründe von Homosexualität, aber auch die Kirche durfte ihre Ansichten äußern. Finbarr dämmerte, dass er strenggenommen gar nichts über das Thema wusste. Und dann kam noch ein glücklicher Zufall um die Ecke: Der Postbote lernte einen schwulen Mitbürger kennen, der ebenfalls im Bürger*innenrat saß. Nun, da er erstmals Kontakt zu einem Homosexuellen hatte, fand er den gar nicht so schlimm. Im Gegenteil! Die beiden wurden Freunde. Finbarr vertraute ihm sogar sein Kindheitstrauma an. Am Ende stimmte der Postbote nicht nur für die Ehe für alle, sondern er stand auch noch auf und erklärte öffentlich mit bewegenden Worten, warum er seine Meinung geändert hatte.

Puh! Diese Geschichte hat mir eine ganze Menge Hoffnung gegeben. Sie zeigt nämlich, dass Menschen lernfähig sind und ihre Meinung um 180 Grad ändern können, wenn sie mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und persönlicher Erfahrung konfrontiert werden. Und ich weiß das aus eigenem Erleben.

Ein Workshop mit Folgen

Während meines Masterstudiums war ich in den USA und habe dort an einem Anti-Rassismus-Workshop teilgenommen. Das war nur so ein Randgeschehen des Business School Programms, ich hatte mich weder großartig dafür interessiert noch viel erwartet. Wie so viele weiße Menschen war ich nämlich überzeugt davon, auf gar keinen Fall rassistisch zu sein. 😛

In dem Workshop sollten wir auf Flipcharts typische Eigenschaften von Latinos/Latinas, Schwarzen und Weißen aufschreiben. Wir schrieben also „Latinas sind temperamentvoll, Schwarze können gut tanzen, Weiße sind technisch versiert“ und sowas in der Art. Ich glaube, wir waren sogar ein bisschen stolz darauf, dass wir für alle lauter positive Eigenschaften gefunden hatten. 😀 Dann kam die Frage der Dozentin: „Okay, und wem von den dreien würden Sie einen Job geben?“ Ich war wie vom Donner gerührt. Das also ist (moderner) Rassismus. Da war sie, die persönliche Erfahrung, bei der uns der Spiegel vorgehalten wurde. Dazu hörten wir faszinierende Berichte über psychologische Experimente, z. B. zur selbsterfüllenden Prophezeiung: Wenn Lehrer*innen einem Schwarzen Kind/einem Mädchen usw. weniger zutrauen, wird es auch schlechtere Leistungen bringen.

Wir erfuhren, dass rassistische Vorurteile und Schimpfworte den Boden bereiten für ganz konkrete Diskriminierung im Alltag der Betroffenen: Im Bildungssystem wird ihnen weniger zugetraut, sie haben geringe Chancen auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen werden sie schlechter behandelt und im Justizsystem auch. Auch das ist in vielen Ländern, auch in Deutschland, untersucht und zig-mal belegt worden. Wenn sich also jemand hinstellt und behauptet, es gäbe keinen strukturellen Rassismus, dann ist das einfach nur dumm. Oder gelogen.

Im Psychologiestudium an der Fernuni Hagen bekam ich dann im Seminar „Kulturelle Vielfalt“ die volle Breitseite zu weiteren Formen von Diskriminierung: Rassismus, Sexismus, Homophobie, Klassismus, Ableismus und Ageism – wissenschaftlich belegt. Ich bin sehr dankbar dafür, weil das wirklich meinen Blick auf die Welt verändert hat. Natürlich hat auch meine persönliche Erfahrung (z. B. jemanden im Rollstuhl durch halb Europa zu schieben – ich empfehle es sehr), dazu beigetragen, dass ich anders auf Themen wie z. B. Inklusion schaue.

Wenn man keine Ahnung hat …

Eine Menge Bohei im Internet (und der gesamte „Konservatismus“, sorry) lebt doch nur davon, dass Menschen nicht über das nötige Wissen verfügen. Man kann eigentlich gar nicht gegen bestimmte Dinge sein, wenn man die Sachlage kennt und ein Herz hat. Siehe Postbote Finbarr.

Und ganz ehrlich hab ich keine Lust mehr, mich im Netz mit Leuten auseinanderzusetzen, die zu faul sind, mal was Fundiertes über geschlechtergerechte Sprache zu lesen. Gendern einfach „doof“ oder „hässlich“ zu finden, ohne die psychologischen und linguistischen Hintergründe zu kennen, ist doch Kindergarten. Natürlich darf man dieser Meinung sein – nur sollte man sich dann vielleicht nicht öffentlich mit seinem Rumgepupse blamieren.

Oder das Thema Impfungen: Klar kann man ganz viele Fragen dazu haben. Man kann sich aber auch mal um Antworten aus wissenschaftlichen Quellen bemühen. Wissenschaft ist eben nicht immer umstritten, sondern zu vielen seit Jahrzehnten erforschten Themen gibt es eine eindeutige Aussage. Dazu muss man natürlich wissen, wo man Quellen findet und welchen man vertrauen kann. Stichwort Medien- und Wissenschaftskompetenz.

Mehr Informationen, weniger Bildung

Es ist paradox: Das Internet, all das transparente, öffentlich zugängliche Wissen hat nicht unbedingt zu einem höheren Bildungsstand in der Bevölkerung geführt, sondern zu mehr Halb-, Viertel- und Hundertstelbildung – und einer Menge Desinformation und Verunsicherung.

Klar, es ist nicht machbar und auch nicht nötig, zu jedem Thema ein tieferes Wissen aufzubauen. Aber man kann zumindest mal abchecken, ob die eigene „Meinung“ eigentlich irgendeinen Realitätsbezug hat. Natürlich kann ich der Auffassung sein, dass die Erde eine Scheibe ist. Aber schon ein kurzer Besuch auf der NASA-Seite sollte meine Meinung erschüttern – zumindest, wenn ich noch alle Latten am Zaun habe.

Umso faszinierender finde ich es, dass es doch eine Weisheit der Massen zu geben scheint, dass der Mensch fähig ist, festgefahrene Überzeugungen fallen zu lassen, wenn er sich Wissen zu einem Thema aneignet. Aus Bürger*innenräten sind übrigens viele Geschichten wie die von Finbarr bekannt. Menschen, die am britischen Bürger*innenrat zur Klimakrise teilnahmen, sprechen von einem „lebensverändernden Ereignis„. Nachdem sie begriffen hatten, dass die Klimakrise wirklich unser aller Leben bedroht, handelten sie sofort: Eine Frau stieg auf Elektroauto um, eine weitere hörte auf, exzessiv um die Welt zu jetten, ein junger Mann wurde Pescetarier. Es gibt also Hoffnung. Bilden wir uns!

Foto von Siora Photography auf Unsplash

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Ein Kommentar

  1. Paul Armingeon

    Wieder mal ein richtig guter Blog. Mir wurde irgendwie ein bisschen übel dabei, also das hat mich zutiefst getroffen. Auch die Sache mit den Schulklassen, ich habe da erst kürzlich wieder von einem Experiment von den Psychologen Robert Rosenthal und Lenore F. Jacobson 1965 gelesen. Möchte da jetzt nicht darauf eingehen, wenn man das sucht findet man das gleich. Aber das fängt halt alles da an. Ich bin in meiner Schulzeit komplett unter die Räder gekommen und hab jetzt 3 Kinder, da bekomme ich schon manchmal Panik.
    Auch mit der Diskriminierung, mir geht das oft auch nicht weit genug oder man fokussiert sich nur auf die bekannten Gruppen. Was ist den z.B. mit kleinen Leuten? Ich habe mal in einer Küche gearbeitet und eine Kollegin die einfach etwas kleiner war musste ständig andere fragen das irgendwelche Töpfe oder Kellen runter geholt werden mussten. Ich hab das (hoffe ich) weitgehend wertfrei und ohne Missachtung gemacht, heute (das ist schon … 10 Jahre her?) hätte ich sie vielleicht mal angesprochen, aber selbst das was mir als „Lösung“ dafür einfällt (wie einen Hocker oder eine Umstrukturierung der Küche) könnte schon wieder falsch aufgefasst werden. Ähnlich wie wenn sich Frauen gegen die Frauenquote wehren und sich bevormundet fühlen. Wahnsinnig komplexes Thema, schreiben Sie weiter so! 🙂

    Viele Grüße aus Dresden,
    Paul Armingeon

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