Ich habe ja den Verdacht, dass niemand wirklich versteht, was ein anderer Mensch beruflich macht. Außer er oder sie macht dasselbe. Ich merke es, wenn ich z. B. erklären will, was mein Schwager arbeitet: Äh, irgendwas mit Vertrieb bei einer Bank. Oder Fondsgesellschaft? Jedenfalls ist er Banker.
Früher, als das noch Bankier hieß, war das ja mal ein ehrenwerter Beruf. Heute wird die Berufsbezeichnung sofort um das Wort „gieriger“ ergänzt, wie Dagmar Recklies in ihrem Beitrag zu meiner Blogparade #nichtwiedudenkst – Aufräumen mit Jobklischees schreibt.
Zu Zeiten der Bankenkrise war es fast soweit, dass man sich kaum noch als Banker outen wollte, berichtet mein Schwager. Die Kunden waren teilweise richtig aggressiv – und einfache Bankangestellte brachen heulend hinterm Schalter zusammen, weil sie für das Fehlverhalten von Top-Managern verantwortlich gemacht wurden. Ich finde es krass, dass es für Kunden manchmal so schwer ist, den Menschen hinter dem System zu sehen.
Auch in meiner Zeit bei der Krankenkasse wurde ich auf jeder Party ins Kreuzverhör genommen und musste mich für die gesamte Branche rechtfertigen: „Jetzt sag doch mal, warum es so viele Krankenkassen gibt! 150, braucht doch kein Mensch!“ „Äh naja, es waren mal fast 2000. Ist historisch bedingt. Damals, als Bismarck die Sozialversicherung erfand…“ (Gesprächspartner dreht sich gähnend weg.)
Zu jener Zeit bin ich ungern zum Arzt gegangen, da so mancher Mediziner mir sofort sein Leid klagte, er würde chronisch am Hungertuch nagen – wegen der bösen Krankenkassenleute und den Knebelbudgets. (Sprach’s und stieg in den nagelneuen BMW.) Am besten sind die Leute, die einem erklären wollen, dass sie gar keine Krankenversicherung brauchen. Weil sie ja nie irgendwas haben. Ah ja.
(Abgesehen davon, dass es mittlerweile eine gesetzliche Versicherungspflicht gibt, sieht man ja hier, wohin es führt, wenn man es auch an der geringsten Selbstfürsorge mangeln lässt… Für alles ist Geld da, aber nicht für die Krankenversicherung.)
Meiner Erfahrung nach waren es eher die Älteren und chronisch Kranken, die wirklich zu schätzen wussten, wie verdammt gut man in Deutschland versichert ist. Und zwar ohne finanzielles Limit. 5-10.000 Euro für ne OP, 50.000 für ein Cochlea-Implantat (pro Ohr), Millionen für eine HIV- oder Bluterbehandlung bis ans Lebensende. Alles kein Problem. Ganz ehrlich, geht mal ins Ausland und schaut Euch dort um.
Der Dämon sitzt immer auf der anderen Seite des Schreibtischs
Die Mär von den bösen Krankenkassenmitarbeitern, die mutwillig alles ablehnen: So ist es einfach nicht. Nicht nach meiner Erfahrung. Es mag Kassen geben, wo bestimmte Leistungen (rechtswidrigerweise) routinemäßig erst mal abgelehnt werden, aber ich kenne das nicht.
Natürlich befindet sich eine Versicherung per se in einem Dilemma: Sie soll den Kunden möglichst gut versorgen, muss gleichzeitig aber aufpassen, dass es nicht zu teuer wird. Das ist ungefähr so, wie wenn ein Supermarkt aufpassen müsste, dass die Kunden nicht zu viel einkaufen. Diesen Spagat täglich zu meistern – das ist die Crux bei der Arbeit eines Kundenberaters.
Viele Kunden verstehen auch das Prinzip der gesetzlichen Krankenversicherung gar nicht. Gesetz! Es geht darum, nach Gesetzen (und eben nicht nach Nase) zu entscheiden, wer was bekommt. So soll Willkür verhindert werden.
Deshalb sind die Angestellten der Krankenkassen, die sich selbstironisch Sofas nennen (ich find’s immer noch sehr witzig, aber es ist die gebräuchliche Abkürzung für Sozialversicherungsfachangestellte), auch keine Mediziner, sondern eher Mini-Juristen, die das Sozialgesetzbuch in- und auswendig kennen. Und deshalb bringt es auch nichts, wie verrückt um eine Leistung zu kämpfen, die das Gesetz partout nicht hergibt.
Dass dieses System trotzdem nicht immer gerecht ist, dass es bürokratisch zugeht, dass natürlich der Einzelfall oft tragisch ist und man gern mehr oder etwas Besseres hätte – kein Zweifel. Trotzdem sollte man nicht vergessen, dass auch bei der Krankenversicherung Menschen hinterm Schalter sitzen. Menschen, die vielleicht selbst mal schwer krank waren, die ihre Mutter bis zum Tod gepflegt haben oder ein schwerbehindertes Kind haben.
Ich habe noch in keinem Job so wenige Zyniker und Arschlöcher getroffen wie bei der Krankenversicherung. Dort sitzen viele Idealisten, die Menschen helfen wollen. Das ist meine persönliche Erfahrung mit den Kolleginnen und Kollegen – und ich ziehe meinen Hut vor ihnen. (Gerade, wenn man aus dem Journalismus kommt, wo ein gewisser Zynismus ja zur Grundaustattung gehört. 😉 )
Mehr als nur Fachidioten
In den meisten Berufen reicht Fachwissen nicht mehr aus, sondern zusätzlich ist eine sehr hohe Sozialkompetenz, die sogenannten Soft Skills, gefragt. Das kann nicht jeder immerzu leisten. Genau das ist es auch, was vielen Menschen zu schaffen macht und einige in den Burnout treibt. So oft höre ich in Gesprächen: „Es ist nicht der Job AN SICH, der anstrengend ist, sondern das ganze Getüddel mit Kunden, Chefs, Kollegen, Lieferanten. DAS macht mich fertig!“
Dem entkommt nicht mal, wer sich für ein Leben hinter dem Computerbildschirm entscheidet. Selbst Programmierer tun viel mehr als nur Code in den Computer zu hacken. Sie müssen erst mal sensibel herausfinden, was der Kunde will und braucht. Und das dann fehlerfrei umsetzen – inklusive der spontanen Eingebungen und Änderungen des Auftraggebers sowie diverser Missverständnisse. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Programmierer brauchen eine Menge Fingerspitzengefühl im Umgang mit Kunden. 🙂 Danke, Anne, für Deinen Blogbeitrag.
Eines der hartnäckigsten Jobklischees ist wohl das des Strickjacke tragenden Sozialarbeiters, der gerne erst mal alles ausführlich durchdiskutieren möchte, „aber nur, wenn das für Dich OK ist, Du“. Wie stark sich soziale Organisationen gerade verändern, kann man bei Hendrik Epe wunderbar nachvollziehen.
Ich denke, jeder kann für sich hinterfragen, was er selbst dafür tut, um Jobklischees zu verstärken oder zu brechen. Ich kenne Hendrik noch nicht persönlich, aber er scheint mir nicht so der Strickjacken-Latzhosen-Typ zu sein… 🙂 Vor einiger Zeit gab es mal einen Fotowettbewerb namens #womeninbusiness von Edition F und dem Handelsblatt, der visuelle Klischees über Geschäftsfrauen brechen wollte.
Da musste ich echt grinsen, denn 99 Prozent aller Geschäftsfrauen präsentieren sich megaklischeehaft im Netz (und in der Realität): dunkles Jackett, helle Bluse, Kragen raus. Ich früher auch. Bunte Haare sind da eher selten. Also: eigene Nase, Mädels.
Bibliothekarinnen hingegen dürften gleichfalls unter Strickjacken-Generalverdacht stehen. Sie wehren sich auch gegen das Klischee, sie würden den ganzen Tag lesen oder „Pssssst!“ rufen, wie Beate Sleegers von der Stadtbücherei Erkrath schreibt. Ganz neu war mir übrigens, dass es neben den Bibliothekaren auch noch FAMIs gibt. Wenn ich das Berufsbild jetzt erklären soll – ähm… 🙂 Lest selber, was Aki dazu meint.
Und Theaterpädagogen zwingen Erwachsene zu Ringelpietz mit Anfassen – jawohl! Schreibt Sarah Bansemer – und die muss es wissen. 🙂 Denn an jedem Klischee ist auch was dran – sonst würde es nicht existieren. Irgendwie helfen uns Klischees ja auch, eine wenigstens nebulöse Vorstellung von einem Job zu entwickeln. Aber es lohnt sich, mal genauer nachzufragen: Was machst du eigentlich? Denn ganz oft ist es #nichtwiedudenkst.
Bitte bei der Bibliothekarin nicht den obligatorischen Dutt vergessen und die an einer Kette befestigte Lesebrille, über die sie konsterniert drüber schielt, wenn man sie anspricht!
Man sieht, ein bestimmtes Bild hat jeder von jedem im Kopf. Ich will gar nicht wissen, wie viele Menschen mir aufgrund meines Anblicks insgeheim unterstellen, erst gar keinen Job zu haben 😀
Und dass sich bei dem Online-Aufruf von Edition F und Handelsblatt vor allem die fleischgewordenen Klischees einer Karrierefrau gemeldet haben, wundert mich eigentlich gar nicht. Weil Karriere doch irgendwie immer noch eher im „seriösen“ Bereich stattfindet und da ist halt nix mit löchrigen Jeans und asymmetrischen Haarschnitten oder grellen Farben… Karriere macht frau eben nur bei Bank und Co. KG. Und da muss das Blüschen halt sitzen… 😉 Dann lieber „keine“ Karriere, dafür ein Hoch auf den Zynismus und auf mein bequemes, entspanntes, everyday-is-casual-friday-Bürooutfit! 😉
Schöner Beitrag! LG Julia
Hihi! Letztens gelesen: „Wenn man den ganzen Tag Pyjama trägt, kann man sich abends gar nichts Bequemes mehr anziehen.“
😀 Naja, ganz so krass ist es dann auch bei mir nicht. Noch(!) arbeite ich ja im Verlag und muss das Haus verlassen 😀 Da kann ich zumindest die Jeans noch gegen die Jogginghose tauschen… 😀
„Für alles ist Geld da, aber nicht für die Krankenversicherung.“
Also das ist wirklich nicht fair und entspricht auch nicht den Tatsachen.
Das im Stern war wohl eher reiner ein Sensationsbericht.
Hier hatte ich mich schon mal länger drüber ausgelassen:
https://jobcenteraktivistin.wordpress.com/2016/04/03/hollerkaputt-menschen-ohne-krankenversicherung/
In seinem Fall schon. Er war selbständig und so weit ich weiß (bin selbst kein Sofa), gibt es eine Härtefallregelung mit einem sehr niedrigen Beitragssatz. Meine Erfahrung ist einfach die, dass viele Leute (gerade jüngere) die Notwendigkeit einer KV nicht sehen und sich darauf verlassen, gesund zu bleiben oder eben mit der Notfallregelung leben zu können. Das finde ich wiederum zynisch, denn das fällt auf die Solidargemeinschaft zurück, also diejenigen, die brav ihre Beiträge zahlen…
Auch 130 € fallen nicht vom Himmel, und Selbständige sind auch nicht alle reich, im Gegenteil.
Ich weiß nicht, woher Du solche Leute kennst, die bloß deswegen auf die Krankenkasse verzichten, weil sie sagen, ich bin doch eh gesund, aber die Bekanntenkreise sind ja sehr verschieden und Filterbubbles überschneiden sich ja oft erschreckend wenig, drum kann ich mir eigentlich doch gut vorstellen, daß Du vorwiegend solche Leute kennst, während ich eine ganz andere Gruppe von Leuten mitkriege.
Ich zitiere mich mal selber von meinem Blog:
„Es gibt in Deutschland etwa 300.000 Wohnungslose.
(…)
Es gab schon in 2013 nach einer Hochrechnung des IAB etwa 3 bis 5 Millionen Menschen, die einen Anspruch auf Hartz IV haben, die Leistung aber nicht in Anspruch nehmen.
(…) Zudem ist vielfach belegt und dokumentiert, daß die Jobcenter versuchen, Leistungsberechtigte mit allen Mitteln aus dem Bezug zu drängen
(…)
Migrantinnen aus der EU werden die Sozialleistungen häufig vorenthalten, die Bundesregierung versucht seit Jahren, dieses Vorgehen europarechtlich zu legalisieren. Aktueller Stand: Nach 3 Monaten können Sozialeistungen bezogen werden. Wer in der Zeit nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist, hat auch keine KV.
Aktuell fordern die Arbeitgeber, auch bei Selbständigkeit und Minijob die EU-Bürgerinnen vom Sozialsystem auszuschließen, somit auch von der KV.
Für Geflüchtete sind mir drei verschiedene Arten von “keine KV” bekannt, vermutlich gibt es noch mehr.
Ein Bekannter geriet als Selbständiger in eine ähnliche Situation (nur ohne Krankheit) – er war bei der KV mit mehreren Tausend Euro verschuldet und musste Privatinsolvenz anmelden. Ich glaube, es hat eher mit der Sichtweise zu tun, wieviel Eigenverantwortung man dem Einzelnen zumutet bzw. zutraut. Ich verstehe, wie man in eine solche Situation geraten kann, aber auch da gibt es anfangs genug Möglichkeiten, auf die KV oder eine Schuldnerberatung zuzugehen, sich beraten zu lassen bzw. und zu verhandeln. Wie gesagt – dort sitzen auch Menschen. Häufig ist die Kopf-in-den-Sand-Mentalität des Schuldners das Problem. Und sorry, aber eine Selbständigkeit, die nicht mal 130 Euro für die KV im Monat abwirft, wird irgendwann auch vom Finanzamt nicht mehr als solche anerkannt.
Ein anderer Punkt ist, dass viele Menschen den Wert einer (Kranken-)versicherung nicht sehen und deshalb ungern zahlen – dieses Phänomen ist in der Neuroökonomie bekannt: Denn 1. verursachen Kosten „Schmerzen“ (Schmerzzentrum des Gehirns wird aktiviert), 2. wird das Belohnungszentrum (anders als bei einer neuen Jeans, Schuhen oder andere Dinge, an denen man Freude hat) nicht aktiviert, 3. gibt es den „Verfügbarkeitseffekt“: Was meine Krankenversicherung leistet, wird sich leider erst dann zeigen, wenn ich sie in Anspruch nehmen muss. An Krankheit oder Behinderung denkt man natürlich ungern – deshalb wird auch der Gedanke ans Beitragzahlen gern verdrängt. Alles von der Hinrforschung nachgewiesen und allzu menschlich…
Mir geht es jetzt um diesen einen konkreten Fall (zum Thema Flüchtlinge u.ä. bin ich nicht tief genug im Thema), wo ich finde: Auf Youtube um seine Behandlungskosten betteln zu müssen – so weit muss es echt nicht kommen in Deutschland, da hätte es vorher genug andere Möglichkeiten gegeben gegenzusteuern. Das ist meine Sicht „von der anderen Seite des Schreibtischs“ – ich verstehe aber auch, dass Du anders darüber denkst.
Boah, ich könnte Dir Geschichten erzählen… aber es sind persönliche Geschichten von richtigen echten Menschen, und wenn ich mir einige der Reaktionen auf Claudius Holler anschaue, dann werde ich niemanden in diese Arena zerren und die Geschichten werden unerzählt bleiben.
Es würde auch nichts helfen. Erwerbslose erzählen ihre Geschichten seit 10 Jahren, so viele, daß man gar nicht dazu kommt, alle überhaupt wahrzunehmen, und es bewirkt nichts.
Deswegen schreibe ich wenn, dann eher über die großen Zahlen und die Art, wie das Gesetz gestrickt wurde.
Find ich super, hab Deinen Beitrag vorhin gelesen. Zahlen und Gesetze OK, letztlich sind es aber die menschlichen Geschichten, mit denen man die Leser wirklich erreicht (im Guten wie im Schlechten), da sie Emotionen auslösen. Auch wieder Hirnforschung. Von daher überleg’s Dir nochmal, ob Du nicht was aus den individuellen Geschichten machen möchtest. Kannst ja anonymisieren. Ich würd’s lesen.
Yep, man erreicht die Menschen emotional. Bloß ohne, daß es an der Sache was ändert.
Ich denk trotzdem drüber nach.
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[…] was cool ist und was nicht? Fleisch essen, Whitney Houston gut finden oder gar die Kanzlerin, bei einer Bank arbeiten, Pokémons jagen – damit ist man schon den verächtlichen Urteilen seiner Umgebung ausgesetzt. […]