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Irgendwas mit den Händen

Früher wollten viele beruflich „irgendwas mit Medien“ machen. Heute höre ich von vielen Menschen, dass sie sich danach sehnen, „irgendwas mit den Händen“ zu machen. Und nee, damit ist nicht Tippen am Computer gemeint.

Ein Bekannter, der in der IT-Branche arbeitet, erzählte mir vor einiger Zeit, dass er lieber Uhrmacher geworden wäre. Er hatte an einem Uhrmacher-Seminar teilgenommen und liebte es. Gleichzeitig war ihm klar, dass er als Familienvater mit Mitte Vierzig nicht mal eben so umschulen konnte. Unser Bildungssystem ist nicht dafür geschaffen. Schade eigentlich. Ich sehe hier eine Riesenchance für den Bildungsmarkt.

Denn dieser Bekannte ist kein Einzelfall. Ich höre und lese dauernd davon: Der Ex-Werber, der seit Jahren erfolgreich ein Risotto-Restaurant führt (meine Empfehlung: das Risotto Milanese). Der Ex-Grafiker, der anfing, Salatsaucen herzustellen und jetzt einen eigenen Shop mit Berliner Produkten hat. Der Ex-Manager, der jetzt im Keller Marmelade kocht.

Ich kann das gut verstehen, auch wenn ich leider feinmotorisch nicht so wahnsinnig begabt bin. Dennoch hab ich immer gern malocht. Das Schulfach „Produktive Arbeit“ (PA) genau wie die wochenendlichen Soli-Arbeitseinsätze für Nicaragua und so waren Höhepunkte in meinem Schulleben.

Ob Neonröhrenproduktion am Fließband, Leiterplattenendverstärkung oder Steckermontage: Ich groovte mich in die Arbeit ein und erholte mich fast dabei. Und am Ende des Tages wusste ich, was ich getan hatte. Was man vom normalen Unterricht eher selten behaupten konnte. 😛

Holzhacken Einstein

Seit einigen Jahren sind Handarbeit und Handwerk ganz klar im Kommen. Von der Mäuse filzenden Hausfrau mit eigenem Dawanda-Shop bis zum edlen ipad-Halter aus Holz: Es wird wieder selbstgemacht. Nun besteht die sogenannte Maker-Szene zu einem nicht unerheblichen Teil aus ehemaligen Werbern sowie Hipstern, die durchschnittliche Produkte in teures Papier wickeln und für ein Heidengeld verkaufen.

Aber dennoch: Es sind viele, die den Schreibtisch verlassen und wieder das machen, was man früher einen „ordentlichen Beruf“ nannte. 😛

Die Welt be-greifen

Aber es muss gar nicht der Beruf sein. Auch hobbymäßig sehe ich in meinem Umfeld, wie immer mehr Menschen anfangen, Dinge mit viel Liebe selbst herzustellen: aufwändige Torten nach alten Familienrezepten zu backen, Körbe zu stricken, Möbel zu zimmern usw. Ich frage mich schon länger, woher das kommt.

Ich vermute, dass wir uns – bewusst oder unbewusst – aus der virtuellen/vergeistigten Welt, in der sich das Leben vieler Kopfarbeiter heute abspielt, wieder mehr in die reale, anfassbare Welt zurücksehnen. Wir wollen die Welt wieder be-greifen. So wie ein Baby durch Anfassen lernt, hungern auch unsere Körper danach, die Welt zu spüren.

Dabei hilft die Arbeit mit den Händen und der Kontakt mit ganz realer, möglichst natürlicher Materie: vom Kuchenteig bis zur Gartenerde. (Im Übrigen kommt man spätestens, wenn man krank ist, in der Reha-Klinik mit Handarbeit in Form von Kunst in Berührung: töpfern, malen usw. Warum das so ist – darüber gibt’s ein Interview auf Büronymus.)

Westliche Schulbildung vs. alte Kulturtechniken

So, das wäre mehr oder weniger mein Blogbeitrag gewesen. Dann aber sah ich „Schooling the world“ – eine Dokumentation über das westliche Schulsystem als Mittel weißer Indoktrination.

Die Grundaussage ist: Wenn man ein Volk unterjochen und eine uralte Zivilisation zerstören möchte, tut man das am erfolgreichsten, indem man dort Schulen baut und die Erziehung der Kinder übernimmt. (Vor allem aus einem Grund: Um aus den vermeintlich „Wilden“ ordentlich angepasste Arbeiterinnen und Arbeiter für das System zu machen.) Das ist bitter und widerspricht allem, woran wir glauben. Aber schaut Euch den Film selbst an; ich lege ihn Euch ans Herz.

In der Doku wird dies am Beispiel von Ladakh gezeigt (aka West-Tibet im Himalaya), wo ich vorletztes Jahr drei Wochen verbracht habe. Dort werden die Kinder aus den Dörfern geholt und acht Stunden lang in Klassenräume eingesperrt, wo man ihnen auf Englisch etwas über das Ökosystem beibringt.

Währenddessen halten die daheimgebliebenen (ungebildeten) Familienmitglieder eben jenes Ökosystem am Leben – nachhaltig und seit vielen Generationen. Pervers, oder?

Ja, die Ladakhis sind nach unseren Maßstäben arm – aber das sind eben unsere westlichen Maßstäbe. Und wenn ich eines gelernt habe auf meinen Reisen durch Asien, dann dies: Nachhaltiges Leben heißt armes (und – wieder nach unseren Maßstäben – nicht besonders hygienisches) Leben.

Nun will ich auf gar keinen Fall dafür plädieren, diesen Menschen mehr Bildung und mehr Wohlstand zu versagen. Die Frage ist nur, ob es ihnen hilft, wenn wir ihnen unser westliches Schulsystem überstülpen. Also das System, wo bei uns schon so einiges schiefgegangen ist.

Hier mal zur Erholung ein paar Fotos von Ladakh, bevor es weitergeht.

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Das Dach der Welt: beeindruckende karge Landschaft auf 3.900 m Höhe
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In den Mahabodhi-Schulen versucht man den Spagat zwischen Tradition und Moderne
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Traditionelle klösterliche Ausbildung
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Free Tibet, of course.

Entfremdet von der Natur und vom Leben

Denn was passiert mit diesen Schulkindern?
Durch den Schulunterricht entfremden sie sich von ihrer Kultur, sprechen teilweise ihre Muttersprache Ladakhi nicht mehr richtig. (Englisch allerdings auch nicht besonders gut, wie ich auf meiner Reise feststellen konnte und was man auch im Film sieht.)

Im Tausch gegen das Wissen der westlichen Welt müssen sie sich nicht nur von dem jahrtausendealten Wissen ihrer Vorfahren lösen – sie entfremden sich damit auch vom überlieferten Lebensstil, von der Natur, vom traditionellen Leben in ihrer Heimat.

Bei uns im Westen hingegen ist diese Entfremdung längst in vollem Gange: Kinder, die nicht mehr wissen, wo das Essen herkommt. Oder überhaupt wie irgendetwas hergestellt wird. Ich selbst bin Großstadtkind und Leseratte. Mein erstes Wort war „Auto“ – und dass es so etwas wie Natur und Jahreszeiten gibt, ist mir erst mit 30 wirklich aufgefallen. (Da hab ich wohl mal den Blick vom Buch gehoben, hehe.)

Vom Produzenten zum Verbraucher

Aber zurück nach Ladakh (oder in irgendeine andere „unterpriviligierte“ Gegend der Welt, wo die Menschen ein einfaches und glückliches Leben führen – aus dem man sie natürlich dringend helfenderweise rausholen muss…) Diese Kinder lernen in der Schule einen Haufen Dinge, die sie auf ein urbanes Leben (mit Jeans, Handy, Studium) als Verbraucher vorbereiten. Denn bislang haben sie ja kaum etwas GE-, geschweige denn VERbraucht. Das muss also dringend geändert werden.

Gleichzeitig verpassen sie durch den Schulbesuch die Chance, zu Hause das zu lernen, was für das Überleben in dieser unwirtlichen Gegend wichtig ist. Oder wie die Einheimischen es im Film formulieren: „Die Jüngeren stehen nur mit den Händen in den Taschen herum.“ Kein Wunder, denn sie KÖNNEN nicht mehr säen, ernten, die Tiere melken, Stoffe weben, kochen, Bierbrauen usw.

Verlorene Techniken zurückerobern

Und hier schlage ich den Bogen zu uns, die wir nun schon ein paar Jahrhunderte in der sogenannten Zivilisation leben: Über Generationen verlernen wir (wenn es nicht gerade unser Job oder Hobby ist) alte Kulturtechniken wie Kochen, Backen, Töpfern, Fermentieren, Weben, Nähen, Stricken, Handwerken. Und machen uns damit abhängig von professionellen Herstellern der entsprechenden Produkte. Brave Verbraucher sind wir.

Doch jetzt regt sich Widerstand – wir holen uns diese Fähigkeiten zurück. Und antworten damit auf eine tiefe Sehnsucht, die offenbar in uns schlummert. So kommt es, dass eine Geisteswissenschaftlerin noch mal Landwirtschaft studiert oder eine Marketeerin (ist das ein Wort?) eine Konditorausbildung macht und jetzt Cakepops verkauft. Oder dass alle möglichen Leute anfangen zu stricken.

Wir entdecken die Freude wieder, selbst etwas herzustellen. Wir werden vom Verbraucher wieder zum Produzenten. Und verstehen die Welt und damit uns selbst wieder etwas besser.

PS: Im Übrigen gibt es auch ganz andere Lernmethoden: z. B. die über 100 Jahre alte Montessori-Pädagogik, in der es u. a. darum geht, den Kindern Fähigkeiten statt „nur“ Wissen zu vermitteln. Aber das ist eine andere Geschichte… 🙂

Header Photo (Pottery) by Jared Sluyter on Unsplash
Ladakh Photos: Lydia Krüger

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9 Kommentare

  1. Kea

    Was für ein toller und besonders lesenswerter Artikel! Bei deinem Satz: „Diese Kinder lernen in der Schule einen Haufen Dinge, die sie auf ein urbanes Leben (mit Jeans, Handy, Studium) als Verbraucher vorbereiten.“ lief es mir kalt den Rücken herunter. Ein Leben als Verbraucher – autsch, autsch, das klingt bitter, ist aber wahr. Und ich glaube auch, dass diese Wieder-Hinwendung zum Handwerk Ausdruck der Sehnsucht des Menschen ist, sich mit haptischen Dingen zu umgeben, das Gefühl zu haben, etwas mit den eigenen Händen zu erschaffen. Mir kommt das digitale Leben – und das als Bloggerin, ich weiß – oft so unnatürlich vor, so künstlich. Bei mir äußert es sich immer mehr in dem Wunsch nach einem Garten, um, da sind wir wieder beim Thema, in der Erde zu wühlen. Einfach, weil das nun einmal im wahrsten Sinne des Wortes erdet. Den Film schau ich heute Abend an, Danke dir für den Tip! Liebe Grüße, Kea

    • Danke! Freu mich, dass ich da einen Nerv getroffen habe. Bin schon länger mit dem Thema schwanger gegangen – der Film war dann der Auslöser. Viel Spaß beim Film gucken! Ich schau mir Deinen Blog auch mal an.

      • Kea

        Freu mich natürlich über deinen Gegenbesuch – auf meinem „Hauptblog“ ( das ändert sich aber auch gerade, öfter mal was Neues 😉 hello mrs eve bist du jetzt auch in meiner Blogroll der Lese-Empfehlungen gelandet. Und jetzt muss ich mal aufhören, hier links und rechts zu klicken, sonst komm ich heute vor lauter Begeisterung ja gar nicht mehr zum Arbeiten 😀

  2. […] Jaha, doofe Frage, einfache Antwort: Um zu überleben, werdet Ihr sagen. „Ich bin nicht mehr ganz jung und brauche das Geld, hehe.“ Das ist die naheliegendste und nüchternste Antwort – und für die meisten Menschen stimmt sie auch. (Wobei sich ja die Notwendigkeit, Monat für Monat einen Haufen Geld heranschaffen zu müssen, vor allem aus unserer Funktion als Verbraucher ergibt. In der Dritten Welt überleben immer noch viele Menschen ohne viel Geld  – aber das ist ein anderes Thema.) […]

  3. […] gerade weil sie hochgradig digitalisiert leben und arbeiten, zum Analogen hingezogen. Sie wollen irgendwas mit den Händen machen. Sie wollen nicht nur etwas schaffen, sondern auch das gute Gefühl genießen, etwas zu […]

  4. […] Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer bis zu der Frage, wie viel Sinn es überhaupt macht, diesen Kindern das westliche Schulsystem überzustülpen. Mal abgesehen von der ganzen „Weiße helfen Schwarzen“-Problematik. Tja, und […]

  5. […] in ihrem Job sein. Das kann sich ein verhirnter Bürohengst wohl nicht vorstellen, wie befriedigend Arbeit mit den Händen sein kann. Es geht doch vielmehr darum, dass ein Mensch die Aufgabe und den Platz findet, an dem er […]

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