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Inklusion: Nichts geht über Selbsterfahrung

„Wer nie sein Brot im Bette aß, weiß nicht, wie Krümel pieken“, lautet ein deutsches Sprichwort. Muss man also etwas selbst erlebt haben, um es nachvollziehen zu können? Nicht unbedingt. Je nachdem, wie viel Empathie man hat, kann man sich ganz gut in die Lage anderer reinversetzen. Solidarität ist, sich nicht nur mit seinesgleichen und den Menschen im engsten Umfeld verbunden zu fühlen, habe ich irgendwo gelesen. Dennoch waren das eigene Erleben oder zumindest die Begegnung mit Betroffenen für mich immer totale Augenöffner. Zum Beispiel beim Thema Inklusion.

Inklusion & Exklusion

Mit dem Thema Inklusion hatte ich mich schon auseinandergesetzt – theoretisch, im Studium. Aber so richtig habe ich es erst kapiert, als ich meine Mutter im Rollstuhl durch halb Europa gekarrt habe. Wir waren damals auf einer Kreuzfahrt – für gehbehinderte Menschen eine recht bequeme Art zu reisen, da die Schiffe in der Regel barrierefrei sind: Flächen und Gänge sind eben und breit genug für Rollstühle, es gibt Behindertentoiletten an Bord.

Gleich zu Beginn der Kreuzfahrt gab es eine Einweisung für die behinderten Passagier*innen. Pflichtbewusst rollte ich meine Mutter also zum Treffpunkt. Zwei junge Mitarbeiterinnen begrüßten uns und begleiteten uns in die Lounge, wo der Vortrag stattfinden sollte. Und jetzt kommt’s: Die beiden Mädels liefen mit ihren Klemmbrettern unterm Arm voran, öffneten die Glastür zur Lounge, gingen hindurch – und ließen sie hinter sich zuschwingen.

Ich war total baff. Rollstuhlfahrer*innen können keine gläsernen Schwingtüren öffnen. Sollen sie dagegenbrettern oder wie? Neben meiner Mutter, die immerhin kurze Strecken laufen kann, waren auch querschnittsgelähmte Menschen dabei, die schon lange im Rollstuhl saßen. Ich sag’s mal so: Die schockt nix mehr. Ich dagegen war empört über so wenig Bewusstsein.

Den beiden Mitarbeiterinnen hätte ein Tag im Rollstuhl auf dem Schiff sicher mal gutgetan. Ich weiß, dass diese Art von Selbsterfahrung bei behinderten Menschen umstritten ist. Natürlich ist es nicht ausreichend, wenn man mal für kurze Zeit im Rollstuhl sitzt (und jederzeit aufstehen kann, wenn es nötig ist). Dennoch bin ich überzeugt, dass das den Blickwinkel zumindest ein bisschen verändert und mehr Verständnis bei Nichtbehinderten erzeugt.

Es heißt ja immer, Menschen sind nicht behindert, sondern sie werden behindert – mal mehr, mal weniger. Das konnte ich in den Tagen unserer Rundreise miterleben. In Cannes bekamen wir direkt nach der Ankunft am Hafen eine Karte der Stadt überreicht, in der die rollstuhltauglichen Wege eingezeichnet waren. Inklusive Behindertentoiletten, was für viele Betroffene ein ausschlaggebendes Kriterium für ihre Route ist. Fantastisch!

Autorin mit Karte am Strand
Die Autorin mit besagter Karte, in der barrierefreie Wege eingezeichnet sind, am Strand von Cannes

In Barcelona war ich begeistert von den vielen abgesenkten Bordsteinen. So hilfreich! Als es allerdings darum ging, eine Kirche zu besuchen, mussten wir eine etwas abgelegene Rampe benutzen. Das entfernte uns von der Reisegruppe und löste leichte Panik in mir aus, weil wir mit dem Rollstuhl generell langsamer waren (vor allem bergauf) und ich immer Angst hatte, dass wir den Anschluss verlieren und das Schiff ohne uns ablegt. Soll ja alles schon vorgekommen sein.

Überhaupt, die anderen Menschen. Wenn wir mit dem Bus unterwegs waren, gab es Busfahrer, die uns die vordersten Plätze reservierten, damit wir leichter rein- und rauskamen. Und die bei jedem Stopp als erstes den Rollstuhl herausholten und aufklappten, sodass meine Mutter sich direkt reinsetzen konnte. Andere Busfahrer taten gar nix. Seufz.

Reden wir nicht darüber, dass das mittelalterliche Kopfsteinpflaster italienischer Kleinstädte eine absolute Katastrophe ist – dafür kann ja niemand was. Bis heute denke ich mit Dankbarkeit an die Mitreisende, die mir anbot, mal ne halbe Stunde den Rollstuhl für mich zu schieben. Sie wusste auch, wie es geht (es ist nicht so einfach, wenn man es noch nie gemacht hat), denn sie war von Beruf – Pflegerin.

Augenhöhe & Status

Was mich am meisten geschockt hat, war die Tatsache, dass viele Menschen mit mir statt meiner Mutter gesprochen haben. Vielleicht hat das etwas mit der Sitzposition zu tun: Man ist automatisch versucht, mit der Person zu kommunizieren, die auf Augenhöhe ist. Oder die scheinbar die Verantwortung und das Sagen hat (nur scheinbar, haha).

Vielleicht spricht man auch der Person im Rollstuhl geistige Fähigkeiten ab. Im Psychologiestudium habe ich gelernt, dass es den sogenannten Spread-Effekt, ähnlich dem Halo-Effekt gibt: Von einer körperlichen Behinderung wird unbewusst auf geistige oder sonstige Fähigkeiten geschlossen. Jedenfalls habe ich erst dadurch verstanden, warum meine Mutter sich sehr lange geweigert hat, den Rollstuhl zu benutzen. Sie wollte ihren Status bewahren.

Seit ich diese Erfahrungen gemacht habe, unterschreibe ich jede Petition, die ENDLICH Mobilitätsgerechtigkeit für Menschen mit Behinderung von der Deutschen Bahn fordert. Ich registriere in jedem Restaurant, ob es eine Behindertentoilette gibt. Ob Veranstaltungen barrierefrei sind, z. B. ob es Rampen gibt, ob Gebärdendolmetscher*innen angeboten werden. Ob Videos untertitelt sind. Ich halte meine Kund*innen dazu an, barrierefreie Angebote zu machen.

Lästig & überflüssig?

Als ich einmal zusammen mit anderen Freiwilligen einen Klimaschutz-Escape Room entworfen habe (leider ist er wegen Corona nie verwirklicht worden), wollte ich ihn barrierefrei gestalten. Nicht nur der Raum an sich sollte zugänglich sein – auch alle Spiele sollten für blinde oder gehörlose Menschen funktionieren, idealerweise für beide.

Ich hatte nicht mit dem Widerstand gerechnet. Da war ein junger Mann in der Projektgruppe, der das komplett lästig fand. Klar, es macht mehr Arbeit und man muss sich ein paar Gehirnzellen mehr zerbrechen – aber ich war mir sicher, dass es machbar war. Am Ende wäre das Spiel sogar besser geworden, weil wir alle menschlichen Sinne einbezogen hätten.

Wie kann man denn dagegen sein, dachte ich? Vor allem in der Klimaschutz- und Weltrettungsszene, wo wir doch die Guten waren und alle mitnehmen wollten. Dem Typen und allen nichtbehinderten Besucher*innen wäre ja nix weggenommen worden – im Gegenteil. Wir haben die Schlacht nicht ausgefochten, da das Projekt wie gesagt gestorben ist. Aber bis heute irritiert es mich, wie sehr er dagegengeschossen hat. Mir schien, dass er Barrierefreiheit nicht nur überflüssig fand, sondern sich gar nicht mit dem Thema auseinandersetzen wollte. Er schob das ganz weit von sich.

Das ist ein Privileg, das man sich leisten können muss. Vielleicht lag es an seinem Alter, dass ihm nicht bewusst war, dass auch er irgendwann behindert sein (oder werden!) könnte. Viele Menschen verdrängen diesen Fakt. Oder er dachte: Ach naja, die paar Behinderten, da lohnt sich der Aufwand nicht. Jeder zehnte Mensch in Deutschland hat eine Behinderung – das ist jetzt nicht so wenig. Außerdem: Schon mal was von Minderheitenschutz gehört? Ihr merkt, ich rege mich immer noch auf. 😀 Denn diese Art von Ignoranz treffe ich häufig.

Als ich bei der Krankenversicherung gearbeitet habe, haben wir gelegentlich auf Veranstaltungen einen „Alterssimulationsanzug“ dabeigehabt. Wer hineinschlüpft, erfährt am eigenen Leibe, wie es ist, schlechter sehen, fühlen und sich nur eingeschränkt bewegen zu können. Das kann man albern finden, aber ich glaube, dieser Anzug hätte dem jungen Mann (und nicht nur ihm) mal ganz gut getan.

PS: Bei Twitter versehe ich meine Fotos mit ALT-Texten, damit auch Blinde sie zur Kenntnis nehmen können, auf dem Blog noch nicht. Eine schlechte Gewohnheit – das werde ich ab jetzt ändern.

Fotos: privat

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