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Hilfe, ich brauche ein HORG-Detox!

Mein lieber Scholli, ich merke es immer wieder: Die Jahre in der HORG haben tatsächlich Schäden bei mir hinterlassen. Also, von kleinen Macken bis tiefe Spuren. Ich finde das nicht ganz ohne, wenn man bedenkt, dass HORGs ja immer noch für viele Menschen sehr attraktiv sind: klangvoller Name, große Tradition, gute Konditionen und so. Und viele geraten ziemlich jung da rein (worst case: als Azubi 😉 ) und denken dann, so muss Arbeit sein. Und selbst wenn sie später Jobs in anderen Organisationen finden, nehmen sie die Prägungen aus der HORG mit. Man könnte sagen: Viele Menschen in der Arbeitswelt wurden in HORGs sozialisiert. Und das ist keine gute Nachricht.

Ich bin ja ziemlich offenherzig hier, hehe: Des Öfteren habe ich das Gefühl, ganz schön gestört zu sein. Vor allem bei der Arbeit. Mit Menschen. 😀 Und naja, früher war das nicht so. Das hat sicher auch was mit meinen beiden Burnouts zu tun. Einiges wird auch schon besser, seit ich selbstständig bin. Aber ich würde gern noch mehr Macken wieder loswerden. Vielleicht hilft’s ja, sie aufzuschreiben:

Schutzreflex

Ich versuche, meine Werke vor Idiot*innen zu schützen. Ich hasse es, wenn mir jemand mutwillig meine Sachen zerschießt. Das war schon früher beim Fernsehen so, als sich bei der Abnahme neben der Redakteurin und dem Redaktionsleiter plötzlich auch noch die Moderatorin eingemischt hat, um an meinem Film herumzukritteln.

Oder wenn jemand einen Text kaputtmacht, der gut funktioniert. Nicht zu verwechseln mit hilfreicher, gern auch harter Redigatur von Leuten, die Ahnung haben und den Text dadurch besser werden lassen. Ich rede hier von denen, die keine Ahnung haben, aber trotzdem drin herumpfuschen – just for fun oder weil sie wichtig sind. Oder weil sie auch mal was sagen wollen. In der HORG ist das besonders schwierig, wenn man mit Menschen zu tun hat, die auf ihrem eigenen Fachgebiet Profis sind – aber eben meistens nur auf dem. Das ist ein Problem in der Führungsetage, aber auch bei abteilungsübergreifenden Projekten.

Es gibt ja diese romantische Idee: Wenn du ein Haus bauen willst, lade nicht nur Architekt*innen, sondern auch eine Gärtner*in mit ein. Jahaha, das klingt super, ne? De facto müssen sich die Profis dann aber so Sachen anhören wie: „Wie wäre es, wenn wir einen Bauplan machen?“ „Ich glaube, Handwerker*innen wären gut.“ Ich finde, es gibt kaum Anstrengenderes, als mit Leuten zusammenarbeiten zu müssen, die keinen Schimmer haben. Unpopuläre Meinung, aber trotzdem.

Umgekehrt mische ich mich auch ungern ein, wenn ich gänzlich ahnungslos bin. Einmal ist unser Oberhäuptling richtig sauer geworden, weil wir anderen Abteilungsleiter*innen uns nicht zu konkreten Vertriebszahlen äußern wollten. Bis heute finde ich das eigentlich einen positiven Charakterzug. 😛 Es ist ja irgendwie Mode geworden, sich zu Dingen zu äußern, von denen man keine Ahnung hat. Jede*r muss überall seinen verdammten Senf dazugeben. Und alle denken, dass sie alles draufhaben – oder sich mit ein bisschen herumgooglen aufschlauen können.

An dieser Stelle fetten Respekt an meinen tollen Kunden, der sich mit dieser Aussage für immer einen Platz in meinem Herzen erobert hat: „Mach du mal! Ich hab keine Ahnung, ich hab nur ne unqualifizierte Meinung.“

Gruppenhass

Naja, Hass ist übertrieben, aber Gruppen strapazieren meine Nerven schon arg. Ich arbeite nicht mehr wirklich gern in Gruppen (was früher mal anders war). Gleichzeitig weiß ich aber natürlich, dass man zusammen mehr auf die Reihe kriegt. Es bleibt mir also nichts weiter übrig, als mich in Geduld zu üben – denn das ist ganz oft das Problem.

Ein weiteres Problem ist der Kompromiss, der bei Gruppenentscheidungen oft herauskommt. Kompromisse sind nicht immer etwas Gutes, vor allem nicht bei kreativen Projekten. Ein Kompromiss bedeutet, dass eine oder mehrere beteiligte Parteien einen Teil ihrer Vorstellungen aufgeben und auf deren Umsetzung verzichten müssen. Manchmal macht das auch Sinn – aber was, wenn ein Teamnmitglied ne tolle Idee hat und die anderen verstehen sie nicht oder verwässern sie? Im schlechtesten Fall ist der Kompromiss ein Flickwerk, mit dem am Ende niemand zufrieden ist.

Ich habe leider in der HORG zu oft erleben müssen, dass gute Ideen (nicht nur meine!) mit Totschlagargumenten abgeblockt oder zerredet wurden. Das ist systemimmanent, denn eine neue Idee bedeutet oft auch mehr Arbeit. Da muss man wieder die drei goldenen Haselnüsse der HORG (Zeit, Personal und Geld) abgeben – und wer will das schon. Also haut man lieber gleich drauf.

Kontrollwahn

Mensch, heute geb ich’s mir aber richtig. Ja, Ihr ahnt es schon. Aus all dem resultiert, dass ich gern die Fäden in der Hand behalte, wenn mir etwas wichtig ist. Deshalb war mein Fonski-Verlag ein Ein-Frau-Projekt und deshalb wird mein Buch auch im Selbstverlag erscheinen. Ich genieße das einfach, wenn etwas mal genau so läuft, wie ich es mir vorstelle. Das ist geil!

Ein Kontrollfreak zu sein, hat allerdings den Nachteil, dass man sehr viel selbermachen muss, weil man ja schlecht was delegieren kann. Da ist einfach kein Vertrauen da, dass jemand anderes das gut genug macht. Das geht schon in Richtung Mikromanagement. Dabei habe ich das an der HORG immer sehr kritisiert – und jetzt bin ich offensichtlich selber gerade auf dem Weg dahin. Auweia.

Pessimismus

Dadurch, dass ich so viele negative Erlebnisse hatte bezüglich neuer Ideen und Vorschläge, bin ich kaum noch imstande, etwas mit Begeisterung vorzuschlagen. Ich hab sofort alle Gegenargumente im Kopf und im schlimmsten Fall liefere ich die gleich dazu. Neulich habe ich in einer Gruppe zwei Ideen gebracht, wie immer sehr verhalten, und beide kamen gut an. Ich war total überrascht und hab mich echt gefreut. Diese positive Energie hat mich richtig getragen.

Als eingefleischte Pessimistin bin ich mir natürlich ziemlich sicher, dass das nichts wird – zumal beide Ideen in Gruppen umgesetzt werden müssen, ach verdammt. Aber hey, ich lass mich gern überraschen. 😛 Die Vorstellung, dass beide Ideen irgendwann leben, kickt mich schon sehr. Das versuche ich, als meinen Leitstern zu sehen.

Konformitätsdruck

Als ich noch in der HORG war, hat mich mal ein Freund gefragt, wer aus meinem Bekanntenkreis wohl meinen Job machen könnte. (In dem Moment war das als Kompliment gemeint, um mich aufzubauen.) Ich meinte: Niemand. Und zwar nicht wegen der fachlichen Qualifikation, sondern wegen des enormen Konformitätsdrucks in der HORG. Keiner von meinen durchgeknallten Freund*innen hätte sich so verbiegen lassen – jedenfalls war ich mir damals sehr sicher.

Witzigerweise wurde ich trotz dieser Anpassungsleistung von meinen Kolleg*innen immer noch als Außenseiterin wahrgenommen. Es fällt mir aber immer noch schwer, bewusst aus der Reihe zu tanzen. Einmal hab ich erlebt, wie jemand bei einer Gruppenübung nicht mitgemacht hat und mir ist echt der Kiefer runtergefallen. Auf so eine Idee würde ich gar nicht kommen – also, außer die Übung ist komplett schwachsinnig, was ich aber noch nie erlebt habe. Das wird wohl mit meiner kollektivistischen Erziehung in der DDR zu tun haben, letztere hat ja sehr viel mit HORGs gemeinsam. Da wird halt mitmarschiert.

Feedback

I’m a sucker for feedback. Als Führungskraft in der HORG habe ich jahrelang vor mich hingearbeitet, fast komplett ohne Feedback – weder zu meinen Leistungen noch zu meiner Person. Allenfalls von „unten“ kam mal was, aber das war auch mit Vorsicht zu genießen – Stichwort Schleimer*innen. Ohne Rückmeldung zu arbeiten, war sehr merkwürdig, weil man im leeren Raum hängt und nicht genau weiß, wo man steht. Ich habe gemerkt, dass ich schon gern Feedback bekomme – natürlich nur, wenn es konstruktiv ist.

Jetzt als Selbstständige kriege ich sehr viel Lob, das ist schon der Hammer. In meinem gesamten Angestelltenleben habe ich nicht so viel Wertschätzung bekommen wie in den letzten fünf Jahren als Selbstständige. Wenn Ihr Wertschätzung wollt, macht Euch selbstständig!

Konstruktive – oder wie ich neulich gelernt habe – solidarische Kritik weiß ich auch zu schätzen, denn die bringt mich weiter. Es kommt aber auch vor, dass Kund*innen gar nicht reagieren, wenn ich etwas abliefere. Und sofort geht bei mir die Abwärtsspirale im Kopf los: „Was ist da los, wieso reagiert keiner, stimmt was nicht mit meinem Text?“ Gerade coache ich mich selber, ein bisschen chilliger zu werden. Meistens haben die Leute einfach vergessen zu antworten.

Paranoia

Womit wir beim nächsten Thema wären. HORGs machen Menschen paranoid – das weiß ich auch aus Gesprächen mit anderen, äh, Betroffenen. Bestes Beispiel: Vor einiger Zeit hatte ich einen Anruf von einer Firma, mit der ich zusammenarbeite. Die unbekannte Frau meldete sich „aus dem Headquarter“ und fragte mich: „Wer hat Ihnen die Information zu diesem Produkt gegeben?“ Das fand ich aber seeehr merkwürdig! Ich hatte sofort Angst, dass mein netter Kundenberater etwas falsch gemacht hat und jetzt bestraft wird. Also hab ich ihn fairerweise gleich informiert, dass seine Zentrale ihm hinterherspioniert. Ähm, naja, es war eine Kundenumfrage. Diese Art von Paranoia habe ich eindeutig in der HORG entwickelt, wo man nie wusste, wer einem gerade am Stuhl herumsägt.

Rechtfertigungsdruck

Ich hab ständig das Gefühl, mich rechtfertigen und verteidigen zu müssen – auch schon, bevor die Anklage raus ist, hehe. Wenn mir jemand drei Fragen hintereinander stellt (Wo bist du? Was machst du? Wann kommst du?), fühle ich mich wie im Kreuzverhör. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass alles, was man in der HORG gemacht hat, hinterfragt wurde und begründet werden musste. Ich habe eindeutig zu viele Berichte geschrieben. 😀

HORG-Detox, please!

An dieser Stelle möchte ich wieder betonen, dass ich in einem ziemlich netten Unternehmen mit geringem Arschloch-Faktor war und auch nicht gemobbt wurde. Aber ich war jahrelang eine Außenseiterin ohne Verbündete in einem System, das mir wesensfremd war und immer mehr anfing, mit meinen Werten zu kollidieren. Das hat Spuren hinterlassen. Verrückt, oder? Irgendwas sitzt da ganz tief.

Ich würde das gern loswerden, mich schütteln wie ein Hund, der aus dem Wasser springt. Aber es gehört wohl vorerst zu mir: dieses HORG-Gift, dass sich einschleicht in den Körper und von dem schon der Low Performer sprach.

Gibt es irgendwo ein HORG-Detox? Dann melde ich mich schon mal an.

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2 Kommentare

  1. Ancilla

    zum schieflachen 😂 gut gemacht 👏🏻

  2. Mira

    Hihihi, liebe Lydia, wieder einmal auf den Punkt gebracht! Die Überempfindlichkeit gegenüber HORGs bleibt, befürchte ich. Ich habe es letztes Jahr ausprobiert und bin als Freiberufler zu meiner ehemaligen HORG für ein Projekt zurückgekehrt – es ging aber einfach nicht mehr. Ich war zu voreingenommen, empfindlich, achtsam, kritisch – irgendetwas davon.

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