Die Corona-Krise zeigt, wo es überall hakt. Auch in der Politik. Politik, wie sie heute gemacht wird, erscheint mir unglaublich gestrig. Diese Phrasendrescherei, der Fokus auf Gesichtswahrung. Das Postengeschacher à la CDU. Die patriarchale Vorstellung, dass einige wenige die Verantwortung für alle übernehmen könnten und schon wüssten, was richtig sei. Das kann man heutzutage nicht mehr bringen. Wer will, kann sich heute sämtliche wissenschaftlichen Studien reinziehen und sich selbst eine Meinung bilden (was nicht unbedingt etwas Gutes ist). So gut wie alle Informationen sind im Netz frei verfügbar – umso deutlicher wird das Versagen der Politik.
Meine Oma hatte mal Besuch von Zeugen Jehovas. Sie lud sie auf einen Kaffee ein, schaute sich ihr Informationsmaterial über den bevorstehenden Weltuntergang an und unterzog es einer eingehenden Kritik. Ihr Fazit: „Mit diesen Kinderbildchen können Sie doch niemanden überzeugen!“ 😀 (Da wisst Ihr, woher ich das habe.) Mal abgesehen davon, dass eine mangelhafte Kommunikationsstrategie bei Sekten grundsätzlich zu begrüßen ist, muss ich oft daran denken. Wenn man mit Erwachsenen redet, sollte man sie auch wie Erwachsene behandeln, ihnen reinen Wein einschenken und deutlich machen, was jetzt nötig ist.
Wissenschaftler*innen haben eine europäische Corona-Strategie entworfen und sagen eindeutig, dass wir angesichts der neuen Virusmutationen ein Riesenproblem** bekommen werden und daher dringend auf zero Covid (hier könnt Ihr die Petition unterschreiben) hinarbeiten müssen. Stattdessen gibt die Politik eine aus der Luft gegriffene Inzidenz von 50 auf 100.000 Menschen als Ziel vor. Falls sich jemand erinnert: Diese Zahl galt in nicht allzu ferner Zeit noch als das Tor zur Hölle, ab dem eine Region zum Risikogebiet erklärt wurde.
Man nimmt den Tod von mittlerweile 50.000 Menschen allein in Deutschland plus die gravierenden Langzeitfolgen der Erkrankung in Kauf, um eine Wirtschaft zu schützen, die momentan eh darniederliegt. (Es ist ja nicht so, als würde diese Hängepartie von einem Lockdown nicht unzählige Opfer fordern – die Pleitewelle wird kommen.) Ich krieg es nicht in meinen Kopf. Zumal es Länder gibt, die Corona im Griff haben und wo Menschen wieder ein mehr oder weniger normales Leben führen.
Deutsche Halbherzigkeit
Deutschland hat nicht nur kein Konzept, sondern kriegt es auch nicht umgesetzt – siehe Impfungen. Warum wird nicht bundesweit rund um die Uhr geimpft? Ist es nicht irgendwie dringend? Warum wird nicht alles weggeimpft, was da ist? Was muss eigentlich noch passieren, damit Deutschland aus seiner Schnarchigkeit aufwacht und diese Pandemie ernst nimmt? (Dass eines der reichsten Länder der Welt es nicht geschafft hat, über die Sommerferien Lüftungsanlagen in seine Schulen einzubauen – davon fange ich gar nicht erst an.)
Sascha Lobo kritisiert im SPIEGEL die typisch deutsche Halbherzigkeit, die ich auch schon oft erwähnt habe. Wir wollen etwas, aber nicht genug, um uns wirklich zu engagieren. Was aber dem Fass den Boden ausschlägt: Bei all dem politischen Rumgehühner um Corona ist es angeblich gaaaaanz wichtig, dass das Gesicht der lieben Politiker*innen gewahrt wird. Lobo spricht mir aus dem Herzen, wenn er schreibt:
Mich empört das, weil ich in derart tief greifenden Krisensituationen erwarte, dass ein Faktor wie »Gesichtswahrung« exakt gar keine Rolle spielt. Null. Bei niemandem. Für mich hört sich das an, als sei hier nicht die sinnvollste oder beste Lösung gefunden worden, sondern eine, die auf das politische Image Rücksicht nimmt.
Dumme Entscheidungen
Das Konzept der Gesichtswahrung kenne ich aus meiner HORG. Es ist oft die Grundlage für dümmste Entscheidungen – oder eine Art, dumme Entscheidungen zu vertuschen. Da gab es den Abteilungsleiter, dessen Abteilung aufgelöst wurde. Um sein Gesicht zu wahren, leitete er fortan sich selbst. 😀 Denn der Karrierefahrstuhl fährt immer nur nach oben – jedenfalls ab einer gewissen Etage. Und so war er eben „Minister ohne Geschäftsbereich“.
Einer Führungskraft wurde eine (!) Stelle weggenommen – da musste sie dann ein ganzes Team aus einer anderen Abteilung dazubekommen: als gesichtswahrende Entschädigung. Ob das nun organisatorisch Sinn machte oder nicht. Meine Güte!
Der Oberhäuptling, der in den vielen Jahren seit seinem Antritt weder eine Strategie vorgelegt hatte noch nennenswerte Ergebnisse liefern konnte (sounds familiar?), wurde mit Ruhm und Ehre verabschiedet. Gesicht gewahrt. Heute berät er Unternehmen. 😀 Ich gehe mal stark davon aus, dass ein einfacher Angestellter achtkantig rausgeflogen wäre, wenn er eine derartige Nullleistung erbracht hätte.
Gesichtswahrung – eine Sache des Status
In ihrem Buch „Das gekaufte Herz“ weist die Soziologin Arlie Russell Hochschild darauf hin, dass diese Form von Rücksichtnahme vor allem für die fragilen Egos der Chefetage gilt:
Menschen mit einem hohen Status genießen in der Regel das Privileg, dass man ihre Gefühle zur Kenntnis nimmt und für wichtig hält.
Über die Gefühle des Fußvolkes hingegen darf man sich ungestraft hinwegsetzen. Die dürfen übergangen und gedemütigt werden, denen werden ihre geliebten Aufgabenbereiche unterm Hintern weggezogen oder bekloppte Vorgesetzte vorgesetzt. Die müssen das aushalten. Professionalität, bitte! Und auch für Frauen und Minderheiten, die einen niedrigeren Status haben, gilt die Gesichtswahrung nicht in gleichem Maße.
Gesichtswahrung bedeutet in der Politik, dass Imagebedenken einzelner Politiker*innen über das Interesse der Gemeinschaft gestellt werden. So etwas war für mich schon immer unfassbar – in der Krise umso mehr.
** Deutsche Medien halten es immer noch nicht für nötig, Corona-Infos kostenfrei für alle zugänglich zu machen. Auch wenn ich die wirtschaftlichen Argumente dahinter verstehe, bleibt der unheilige Effekt: Fake news are for free, facts are behind a paywall. Das Interview mit Christian Drosten zur aktuellen Lage ist in englischer Sprache frei verfügbar. Verstehe das, wer will.
Photo by Andres Herrera on Unsplash
Hallo liebe Lydia,
ich gehe davon aus, dass man auch bei Menschen in Hochstatus-Position nicht auf deren Gefühle Rücksicht nimmt, sondern eben nur auf die Wahrung des Gesichts, des Status. U.a. deswegen geht es auch vielen Menschen in solchen Positionen emotional/psychisch so schlecht.
Mir kommt es so vor, als hätten wir über die institutionelle Stabilisierung von Statusunterschieden zwischen uns („Hierarchie“) soziale Systeme geschaffen, die tatsächlich auf keines Menschen Gefühlsleben Rücksicht nehmen.
Das Erste, was man lernt, wenn man für Hochstatus ausgebildet wird, ist ja die Unterdrückung oder das Übergehen eigener Gefühle, Impulse, Bedürfnisse, Wünsche (daher auch das weiterhin hohe Ansehen von „Stoizismus“ oder „Ataraxie“ in solchen Kreisen; mit dem was wir mittlerweile über die menschliche Psyche wissen, hat das ja was ziemlich Absurdes).
Nur wer seine Psyche unterdrückt, wird überhaupt in Hochstatus-Positionen gelassen. Und wer eigene Impulse nicht mehr wahrnehmen kann, kann das dann i.d.R. auch bei anderen Menschen nicht mehr. – Ein perfektes kollektives Anti-Empathie-Training.
Das ist deswegen so fatal für Gesellschaft, weil gesellschaftliche Koordination m.E. nur über Empathie überhaupt möglich ist. Das sieht man schon bei unseren nächsten Verwandten im Tierreich und ihren Gesellschaften: https://nautil.us/issue/70/variables/empathy-morality-community-cultureapes-have-it-all
Was denkst Du dazu?
LG!
Ardalan
Das sehe ich genauso.
ZERO COVID ? Man will Viren ausrotten, die uns seit Jahrmillionen begleiten? Wie dümmlich ideologiegetrieben ist das denn? Aber klar, wir sperren alle Menschen weiter ein und alles wird gut. Sehr bedenklich.
Und noch etwas zum Thema Virus-Mutation: Ein „neues“ Virus mutiert IMMER! Allerdings in der Regel dahin gehend, dass es seinen Wirt nicht mehr umbringt (wäre nämlich für das Überleben der Viren kontraproduktiv) sondern dahingehend dass es leichter übertragen werden kann (also mehr Viren überleben und so im Umlauf sind)
Wir können uns also die „Mutationspanik“ getrost ersparen. Im Gegenteil, das ist für uns alle eine erfreulich Entwicklung. (Entsprechendes logisches Denken vorausgesetzt)
Und damit wünsche ich einen angenehmen Tag – auf dass die Vernunft wieder einkehrt.
Nur ein Wort: Pocken.
Pocken sind mit Covid nicht vergleichbar da kaum mutierend.
Es geht darum, die Zahlen so niedrig wie möglich zu bekommen, gegen 0. Andere Länder wie Australien, Neuseeland, Finnland, Norwegen, Taiwan etc. beweisen, dass es geht. Und zwar ohne „Einsperren“ oder Schießbefehl (jeez!), sondern mit konsequenten Lockdowns (ohne Skifahren und wir treffen uns alle im Park zum Spazierengehen), contact tracing und strengen Quarantäneregeln. Also alles, was man von einem gut organisierten Staat erwarten könnte. Hierzulande ist die 0 nicht mal Ziel, sondern eine verwaltungstechnisch begründete Zahl von 50. So wird es, zusammen mit einem Impfprogramm mit angezogener Handbremse, viele Monate dauern, bis ein halbwegs normales Leben wieder möglich ist.
Was ich nicht verstehe ist, warum man bei Führungskräften noch von Emotionen spricht, hat man doch herausgefunden, dass die Empathie mit Ansteigen der Macht immer mehr abhanden kommt. Und zwar bei jedem! Ob eine Führungskraft am Ende immer noch menschlich handelt, hängt im Wesentlichsten von seinem Grundcharakter ab. Von daher finde ich, dass wir mit unserer Politik noch großes Glück haben. *Ironieon* Man könnte ja auch z. B. alle Infizierten ausrotten oder vor den Toren der Stadt in Siechheime abschieben. *Ironieoff * Schlimmer geht immer.
Was viele nicht bedenken ist, dass „mit die Politik“ meistens die Kanzlerin gemeint ist. Sie kann vieles aber gar nicht entscheiden, weil es Ländersache ist. Sie muss also versuchen, alle an einen Tisch zu bekommen. Und das macht sie zur Zeit m. E. ganz gut. Das könnte nicht jeder! Das ist nämlich eher ein Job der Koordination als der Macht. Man stelle sich da nur einen Merz oder Söder vor. Die können zwar auf den Tisch hauen, aber was nützt es, wenn sich danach alle Länder abwenden und jeder sein eigenes Süppchen kocht?
Die meisten Infizierten entstehen dadurch, weil sich nicht an die von der Regierung vorgegebenen Regeln gehalten wird! Ich weiß nicht, warum die allermeisten wie kleine Kinder funktionieren und erst reagieren, wenn man richtig streng ist? Muss „Mutti“ wirklich allen erst auf die Finger kloppen, damit sich dran gehalten wird???? Mutti kann aber nun mal nicht überall sein. Wie alt sind wir denn alle bitte?
Und Zero Corona? Im Ernst? Das würde das Absperren sämtlicher Grenzen bedeuten. Das würde bedeuten, dass Familien getrennt werden. Das würde bedeuten, dass Immigranten nicht ihre Familien besuchen dürften. Das würde bedeuten, dass alle angrenzenden Länder die gleiche Politik praktizieren und wenn nicht, abgeschirmt werden und zwar mit Mauern, Zäunen und Schießbefehlen. Wollen wir das wirklich?
Und wenn wir dann alles abgesperrt hatten und kein Corona mehr in unserem Land ist, was dann? Weiter die Grenzen dicht halten, dass auch kein Neues mehr rein kommt?
(Hier kürzte ich meine Antwort ab, da sie zu lang wurde und vielleicht auch weniger Antwort, denn meine komplette Meinung zu sämtlichen hier vielleicht auch nur angeschnittenen Themen wurde. Deshalb postete ich den Rest lieber bei mir.)
S. mein Kommentar unten, später mehr auf Deiner Seite. 😉