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Was Gehorsam mit uns macht

Als ich klein war, wurde überall Gehorsam gefordert: in Kindergarten und Schule, in den politischen Organisationen, zu Hause. Die Option „Nein“ gab es oft gar nicht.

„Und sie taten, wie ihnen geheißen“ – diese Passage kam gefühlt in jedem zweiten Märchen der Gebrüder Grimm vor. Im Großen und Ganzen war ich ein folgsames Mädchen – was blieb mir auch anderes übrig.

Allerdings gab es schon immer zwei Ausnahmen: Wenn ich großen Schwachsinn ertragen muss oder eine schreiende Ungerechtigkeit sehe, verlässt mich der Gehorsam. Dann werde ich zum Tier. 😀

Die Sache mit dem blauen Baum

Wie bei der Sache mit dem blauen Baum. Es muss in der dritten Klasse gewesen sein, als die Kunstlehrerin mich zwingen wollte, einen Baum ganz in Blau zu malen. Ich weigerte mich (großer Schwachsinn!) und malte ihn braun mit grünen Blättern.

Ich muss mich ziemlich massiv widersetzt haben, denn ich bekam bei dieser Lehrerin nie wieder einen Fuß in die Tür. Von jenem Moment an hassten wir einander aus vollem Herzen. 🙂

Nur der Fakt, dass die Kunstlehrerin mit meiner Russischlehrerin zusammen war, die wiederum große Stücke auf mich hielt (und auch das beruhte auf Gegenseitigkeit), bewahrte mich davor, dass sie ihren Hass offen auslebte.

Vermutlich wollte die Kunstlehrerin uns abstrakte Kunst vermitteln, was ihr aber gründlich misslang. Überhaupt war der Kunstunterricht eine Katastrophe. Dass es in der Kunst darum geht, sich auszudrücken und nicht einfach nur etwas abzubilden oder ein schönes Design zu schaffen, ging mir erst viele Jahre später auf… Nun ja, Selbstausdruck war eben nicht gefragt in der DDR. Wie bitter eigentlich, dass man uns sogar in der Kunst Gehorsam abverlangt hat.

Arsch in der Hose oder nicht

Auch wenn ich mich mittlerweile mit blauen Bäumen angefreundet habe 🙂 – je älter ich werde, desto weniger Lust habe ich, Schwachsinn zu tolerieren und desto mehr Spaß macht das Selberdenken und -fühlen. (Hey, schließlich bin ich seit 1989 Teil der freien Welt.)

Ich fing auch im Job an, Fragen zu stellen und meine qualifizierte Meinung zu sagen. Schließlich wurde ich ja dafür bezahlt. Dachte ich. Und erlebte immer wieder: Wenn es brenzlig wurde, stand ich ganz allein da. Von wegen freie Welt! Gerade in der Arbeitswelt gibt es jede Menge Mitläufer und Duckmäuser.

Mein absoluter Hasssatz ist: „Ich mache hier nur meinen Job.“ Ja, das haben die KZ-Aufseher auch immer gesagt. Bloß keine Verantwortung übernehmen für das, was man macht. „Und sie taten, wie ihnen geheißen…“

Eine Freundin, die nach einer Krebserkrankung aus dem Job gemobbt wurde, erfuhr von ihren langjährigen Kollegen NULL Rückhalt. Kein einziger machte den Mund auf. Oder wie sie es in ihrer unnachahmlichen Art auf den Punkt brachte:

Ich wusste gar nicht, dass Keinen-Arsch-in-der-Hose-haben so im Trend ist.

Gehorsam als Gefahr für sich selbst und andere

Der Psychologe und Psychotherapeut Arno Gruen beschreibt in seinem Bändchen „Wider den Gehorsam“*, was für ein Knäuel aus Identitäts-, Abhängigkeits- und Gefühlsproblemen sich hinter dem Gehorsam versteckt. Und wie schwierig es ist, sich dagegen aufzulehnen. „Dabei ist das Perfide am Gehorsam seine eingebaute Sicherung: Gegen ihn zu verstoßen bedeutet, mit Schuld überladen zu sein.“ (S. 68)

Ich denke da an die im Geschäftsleben oft beobachtete Offizier-Adjutant-Konstellation: ein älterer Chef „hält“ sich einen jüngeren Adjutanten, der ihm gegen eine gewisse väterliche Anerkennung (und bestenfalls die versprochene Beförderung) unbedingte Loyalität entgegenbringt. Man könnte es auch Gehorsam nennen. Undenkbar, dass der Adjutant sich auflehnt.

Ein Flugzeug der Korean Air ist 1997 abgestürzt, weil der Copilot sich nicht getraut hatte, den ranghöheren Piloten auf einen Fehler hinzuweisen. Der Fall gilt heute als Lehrstück für die Gefahren einer stark hierarchischen Unternehmenskultur.

Diese Adjutantennummer wird gern verbrämt als Mentoren- oder Fördererverhältnis, aber für mich sah es immer nach einer neu aufgelegten Vater-Sohn-Geschichte aus: Liebe gegen Gehorsam. Nur, dass es keine Liebe ist.
Dafür muss ich nicht einmal Psychologie studiert haben. 🙂 (Was schade ist. Aber ich lese mir jetzt einiges an. Zum Beispiel Arno Gruen.)

Folgsam von klein auf

Ach, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Gehorsam macht so viel kaputt. Fangen wir bei dem „alten“ Bild vom Kind an, das Arno Gruen so beschreibt:

„…Unsauberkeit, Unreinheit, Gier, Unstetsein, Zerstörungswut. Kinder sind – das sah auch Freud so – unersättlich in ihren Trieben und stets darauf erpicht, dem Lustprinzip zu folgen.
Es sollte uns hellhörig machen, dass genau dieselben Eigenschaften dem gehassten Fremden – ob Jude, Sinti und Roma, Chinese, Katholik, Kroate, Serbe, Tschetschene, Kommunist usw. – immer wieder unterstellt werden.“ (S. 34)

All dies gilt es also, dem wilden Kind auszutreiben und dafür Gehorsam in ihm zu installieren. Leistungs- statt Lustprinzip! Am einfachsten geht das mit Gewalt. Und indem man in der Erziehung den Verstand verherrlicht und das Gefühlsleben unterdrückt. Darin sind wir Deutschen ja Meister.

Und wer keinen Kontakt zu seinen Gefühlen hat, dem kommt die gesunde Wahrnehmung abhanden. Was wiederum sehr praktisch ist, denn jemand ohne inneren Kompass lässt sich leichter führen. Oder manipulieren.

Die Auswirkungen sehen wir jeden Tag: Orientierungslose Menschen, die sich nicht spüren, die keinen Kontakt zu ihrem Herzen haben (und damit auch nicht zu denen anderer Menschen) – und dann Flüchtlingsheime anzünden oder Terrorakte begehen. Oder Populisten auf den Leim gehen. Oder ihre Mitarbeiter quälen.

Wissen schafft Ungehorsam

Unbedingter Gehorsam setzt bei dem Gehorchenden Unwissenheit voraus.

…wusste schon der französische Philosoph Montesqieu.

Gut, das ändert sich gerade. Durch das Internet hat ein Teil der Menschen immerhin einen besseren Zugang zu äußeren Informationen. Stichwort: Transparenz. (<— Hinter diesem Link verbirgt sich ein älterer, aber sehr tiefsinniger ZEIT-Artikel von Byung-Chul Han, der sich kritisch mit den Nebenwirkungen von Transparenz auseinandersetzt.)

Was die Leute dann mit dem Wissen machen und ob sie das weniger manipulationsanfällig macht, ist allerdings noch die Frage – siehe Brexit.

Ich habe es mal erlebt, dass ein Mitarbeiter zuhause mit dem Taschenrechner den Millionenhaushaltsplan der Firma „nachgerechnet“ hat – allerdings nur anhand der paar Zahlen, die er kannte. Ähm…

Ähnliches lässt sich auch bei Kommentatoren im Internet beobachten: Dort glauben die Menschen, mit den wenigen und oft zweifelhaften Infos, die ihnen aus dem Netz zur Verfügung stehen, bessere Lösungen zu finden als z. B. Profipolitiker. Das entbehrt nicht einer gewissen Lächerlichkeit. Auch der Bundestrainer kann ein Lied von dieser ewigen Besserwisserei singen.

Ungehorsam als menschliche Tugend

Oscar Wilde sagte einmal:

Der Ungehorsam ist für jeden, der die Geschichte gelesen hat, die ursprüngliche Tugend des Menschen. Durch den Ungehorsam ist man zum Fortschritt gelangt, durch den Ungehorsam und durch die Empörung.

Na, ich weiß nicht. Einfach nur den Ungehorsam zu proben – damit ist es nicht getan. Auch dafür ist der Brexit ein prima Beispiel. Ohne Rücksicht auf die Konsequenzen einfach mal „dagegen“ zu schreien, bringt eben nichts. Das haben wir schon 1933 gesehen.

Der innere Kompass – also der Kontakt zu sich selbst und den eigenen Gefühlen – und die innere Weisheit sind gefragt, damit man eigenständig schlaue Entscheidungen treffen kann. Mit qualifiziertem Wissen von außen und einer gehörigen Portion Ungehorsam.

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Photo by Fancycrave on Unsplash

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16 Kommentare

  1. LC8Skully

    Ich finde es äußerst schwierig so oft gegen den Strom zu schwimmen. Zuviel Schwachsinn im Geschäftsleben erlebe ich jeden Tag. Daher nutze ich innere Netzwerke mit Menschen die es auch erkennen um für die Firma das Beste aus dem Schwachsinn zu machen.
    Das ist vielleicht eine unrühmliche Art, aber mitunter Wirkungsvoller als zu poltern.

    • Es kommt wahrscheinlich auf die individuelle Schwachsinnstoleranz an… 😉

      • Schön gesagt. 🙂 Dass ich Freiberuflerin bin, hat eine Menge damit zu tun, dass meine nur ganz knapp über Null liegt. : D
        (Du schreibst einfach wunderbar!)

  2. Du schreibst über ein Thema, über das viel mehr geredet werden müsste…bzw. mehr in den Vordergrund rücken sollte. Die Angst, ungehorsam zu sein, entsteht aus der Angst, ausgeschlossen zu werden und hat daher gute Gründe.
    Wir sind gesellige Wesen, die die Familie und Gruppe brauchen, um zu überleben.
    In einem überschaubaren System setzt sich der durch, der schon öfter richtige Entscheidungen getroffen hat, der Gruppe gedient hat. Heute ist nichts mehr natürlich und überschaubar. Jede Meinung lässt sich irgendwie begründen, da der Bezugspunkt zur Natur fehlt, wir leben von ihr losgelöst in einer künstlichen Welt und in dieser kann jeder Recht haben. Das macht es so schwierig. Die hierarchischen Strukturen sind auf Gehorsam und Unterdrückung gegründet. Will man sich daraus lösen, bleibt wohl nur der Weg in dem Wald.

    • Ja, der Wald! Darüber schreibe ich auch mal was… 🙂 Gehorsam bedeutet für mich vor allem, den eigenen inneren Kompass zu ignorieren und sich auf eine Steuerung von außen zu verlassen. Und das geht in der Regel schief.
      „Jede Meinung lässt sich irgendwie begründen, da der Bezugspunkt zur Natur fehlt, wir leben von ihr losgelöst in einer künstlichen Welt und in dieser kann jeder Recht haben.“ Oh ja, lies doch mal dazu das Interview mit der Kunsttherapeutin. Sie sagt auch sowas in der Richtung. Hier der Link: https://bueronymus.wordpress.com/2016/06/10/bei-der-handarbeit-erfaehrst-du-dich-selbst/

  3. Ilaina

    Und gleichzeitig wir der Fachkräftemangel beweint. Aber wenn Fachkräfte a) nicht entsprechend bezahlt werden und b) deren Wissen gar nicht gewünscht ist, wieso sollte sich dann jemand noch richtig aus- und vor allem weiterbilden?
    Meine eigene Erfahrung: Klappe halten, nicken und immer brav ja sagen. Wenn nicht, dann wird Dir sehr schnell zu verstehen gegeben, wie unerwünscht Du bist.

          • Ilaina

            Macht es nicht. Dauernd seinen Job deswegen verlieren aber auch nicht.

  4. […] oder vielleicht gerade – weil ich in ziemlich autoritären Strukturen aufgewachsen bin, in denen Gehorsam gefragt war. Und doch gibt es Momente, wo ich die Hierarchie zurück will. Und zwar, wenn es um […]

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