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Ganz nah dran

Ich will über Russland schreiben. Russland, den Aggressor, Russland, die Kriegsmaschine, Russland, die Propagandamaschine. Russland, das Land meiner Kindheit. Das bisschen Russland, das noch in mir ist. Ich würde lieber über die Ukraine schreiben – wie stark, wie freiheitsliebend, wie clever sie ist. Aber ich weiß nichts über das Land, es spielte bisher keine Rolle in meinem Leben. Ich fange jetzt erst an zu lernen.

Ich kann nicht schreiben, wenn ich nichts fühle. Ich kann aber nichts fühlen, denn das würde mich zerreißen. Ich sollte sowieso nicht über mich schreiben. Es fühlt sich nicht richtig an. Wer bin ich schon, eine middle aged cat lady. Wen kümmert es, dass ich über die toten und verletzten Ukrainer*innen weine, über die erschöpften Frauen und Kinder, die am Hauptbahnhof ankommen, ihre geduldigen Hunde und Katzen im Schlepptau. Die zu allererst deutscher Berliner Unfähigkeit begegnen – dem heillosen Chaos, das die einst so berühmte typisch deutsche Ordnung längst ersetzt zu haben scheint.

Was spielt es für eine Rolle, dass ich um das Russland meiner Kindheit weine, das mir viel zu lange unschuldig erschien, rein und auf kindliche Art gütig. Dass ich weine über den Schrecken, den Russen in der Welt verbreiten, nicht erst seit dem 24. Februar 2022, sondern vorher schon in Syrien, Georgien, Tschetschenien. Darüber, dass die Guten, die meine Heimat vom Faschismus befreit haben, die meiner Mutter das Leben gerettet haben, nun endgültig auf die Seite des Bösen gewechselt sind oder dort schon waren. Darüber, dass ich mir so lange so viele Illusionen bewahrt hatte. Darüber, dass ich weggeschaut habe, mich nicht interessiert habe für das ganze Ausmaß von Putins Propaganda.

Desinteresse ist tödlich, lese ich. „Man kann nicht alles wissen“ sagt ein Freund. „Das ist tragisch.“ Ich möchte aber alles wissen, ich will die Wahrheit. Ich gehöre nicht zu den Menschen, für die das Leben einfach weitergeht. Das erlaube ich mir nicht. Dafür ist das alles zu nah dran. Russland betrifft mich, ob ich will oder nicht.

Ich lese, die russische Seele sei eine Erfindung der Deutschen. Aber ich hab sie erlebt. Vor allem habe ich ihre Abwesenheit in Deutschland erlebt. Deshalb kann ich mir schwer vorstellen, dass die Deutschen so etwas erfunden haben.

Und jetzt ist (schon wieder) Krieg, direkt nebenan. Zwischen uns und dem Krieg liegt nur noch Polen. Russische Soldaten schreiben „Nach Berlin!“ auf ihre Hubschrauber und Autos. Russland setzt jetzt neuste Hyperschallraketen ein, die aus der Luft 2.000 km weit fliegen. Zwischen Moskau und Berlin liegen 2.000 km – zwei Stunden Flug oder 28 Stunden Zugfahrt, mit schwarzem Tee und Wodka.

Je näher alles kommt, desto weniger finde ich Worte dafür. Es ist, als stünde ich am Strand vor einer Riesenwelle und sollte erzählen, was ich fühle. Dabei fühle ich einfach nur Terror. Verzweiflung. Dankbarkeit, dass es mich noch nicht getroffen hat. In diesem Augenblick noch nicht.

Ich versuche zu helfen. Wer hätte das gedacht, dass meine eingerosteten Russischkenntnisse noch mal gefragt sein werden. Es tut gut, wenn man mit den Geflüchteten sprechen kann – das ist noch mal ein anderes Level an Verbindung.

Eine geflüchtete Frau fragt mich, was ich verdiene. Ich würde gern einen Witz daraus machen: Wie lange dauert es, bis eine Osteuropäerin, die gerade vor einem Krieg geflohen ist, nächtelang nicht geschlafen hat und keine Ahnung hat, wie ihr Leben weitergeht, dich fragt, was du verdienst. Haha. Eine andere Ukrainerin möchte Lockenwickler kaufen. Vor ein paar Tagen war ihr Leben noch ganz normal, sagt sie.

Ich gucke russisches Propagandafernsehen, ich kann die Titelmelodie der Nachrichtensendung immer noch mitsingen. 45 Minuten News, davon gefühlt 40 Minuten Putin. Sie zeigen den Roten Platz, für mich ist er nicht nur ein Symbol, wir waren da oft spazieren. Oder bei Paraden.

Wie werden sich die Russ*innen fühlen, wenn sie erfahren, was in ihrem Namen den Ukrainer*innen angetan wurde? Wie kann ein Volk, das berühmt ist für seine große Seele, so etwas zulassen? Man kann alles rationalisieren. Jemand aus meinem Umfeld hat mir gesagt, Putin werde schon „gute Gründe“ haben. Was für Gründe kann es geben? Für sowas?

Krieg ist die abartigste Scheiße, die Männer sich ausgedacht haben. Ein Land überfällt ein anderes, schlägt alles kurz und klein und und muss dabei Regeln beachten?! Genfer Konvention und so. Wenn ich lese, dass es verboten ist, Zivilist*innen zu töten, klingt das für mich, als wäre es okay, Soldat*innen zu töten. Wieso tötet man einander überhaupt?

Krieg ist wie ein Dschinn, sagt ein Experte, einmal aus der Flasche entwichen kriegt man ihn schwer wieder rein. Wir brauchen einen dreckigen Deal, sagt ein anderer, damit wieder Stabilität einkehrt. Wie dreckig darf’s denn noch werden?

Es gab schon viele Kriege – dieser ist anders, näher dran, für alle. Ein schwuler Freund überlegt, wohin man abhauen könnte, falls der Krieg noch näher kommt. Ich lese von Ukrainer*innen, die nicht fliehen können: die kranke Mutter, die Katzen. Im Ernstfall bin ich wohl eine von denen. Währenddessen richtet meine Mutter fröhlich den Luftschutzkeller her: „Wir brauchen einen Toaster.“

Ich sehe die Russ*innen jetzt mit anderen Augen – das ist das Schlimmste. Zum ersten Mal verstehe ich, warum jemand Angst vor ihnen hat. Auch ich habe Angst vor dem Größenwahn, der Unberechenbarkeit, der Grausamkeit. Ich fühle Hass auf Putin, der den Luxus des Westens liebt und russische Teenager losschickt, um die Ukraine in Schutt und Asche zu legen.

Ich habe Angst, dass der Westen Putin nicht stoppen kann, dass die Russische Armee einfach weitermarschiert, dass die Demokratie erst in der Ukraine ausgemerzt wird und dann im Rest Europas. Als leidenschaftliche Pessimistin war ich ja schon alarmiert, als Putin 100.000 Soldaten an der ukrainischen Grenze postiert hatte. Auch damals dachten viele: Ach, der wird doch nicht … Hat er aber.

Die Welt scheint aus den Fugen geraten. Wird es jemals wieder so wie früher? An schlechten Tagen zweifle ich daran. An guten hoffe ich, dass uns das Schlimmste erspart bleibt.

PS: Sorry für die Düsternis, ich würde so gern mal wieder was Lustiges schreiben, aber die Zeiten sind nicht danach. Ich hoffe, das ändert sich bald.

Photo by Matt Paul Catalano on Unsplash
Bearbeitung: Lydia Krüger

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2 Kommentare

  1. Petra Gansen

    Ja, das sind so ganz die Gedanken und Gefühle, die man hat, wenn auch noch die letzten Fragmente des eigenen Weltbildes in Trümmer geht (wenn es nicht schon eigentlich mit Georgien und Syrien, der Krim und dem Donbaz dahin war). Der Ekel, den man angesichts der Propagandasendungen des Russischen Fernsehens empfindet, angesichts der Verlautbarungen von Putin und Lawrow, den Ekel bei den Äußerungen dieses orthodoxen Obermimen, der – ganz christlich – diesen Überfall gutheißt. Diese erstickende Trauer, wenn man die Frauen und Kinder sieht, denen von einem Tag auf den anderen alles, aber auch wirklich ALLES genommen wurde. Auch die Partner und Väter. Und ja, im Schock und in der Angst, die einen kaum noch zur Ruhe kommen läßt, wo man schon die absurdesten Gedanken nicht mehr für absurd hält, wo man schon in Gedanken den Keller herrichtet als Schutzraum, der dann wahrscheinlich doch nicht schützt. Ich hätte niemals gedacht, dass sich mein früheres Engagement für Frieden und Abrüstung in den 1980er Jahren einmal so falsch anfühlt. 1983 stand die Welt schon einmal vor dem Abgrund und ein einzelner Mensch – Stanislaw Petrow – hat den Knopf nicht gedrückt. Wird diesmal auch ein so besonnener Mensch die Welt retten? Und werden Putin und seine Spießgesellen dort landen, wo sie hingehören – in Den Haag und dann im Knast?

  2. Ich drücke dich einfach aus der Ferne. Mehr weiß ich auch nicht dazu zu sagen.

    Liebe Grüße,
    Sarah

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