Manche Filme wirken länger nach. So ging es mir mit „The Zone of Interest“. Wobei ich erst mal seltsam unbeeindruckt aus dem Kino rausging: Klar, ein filmisches Meisterwerk, die Kamera, das Kostümbild, die Schauspieler*innen. Aber eigentlich habe ich nichts Neues erfahren. So sind wir halt, wir Deutschen. Einfach nicht hinsehen, dann geht’s schon. Geht uns alles nichts an. Wir machen hier nur unseren Job und können doch auch nichts dafür.
Aber dann, in den folgenden Wochen, merkte ich, dass der Film immer wieder hochkam. Wie so ein Schluckauf. Mich hatte sehr irritiert, dass Sandra Hüller in einigen Szenen original wie eine Prenzlberger Mutti rüberkam: dieser Tunnelblick auf die eigene Familie, der Traum vom idyllischen Leben auf dem Land. In einer Szene am Fluss macht sie ihrem Mann klar, dass sie nicht bereit sei, dieses Leben für seinen neuen Job aufzugeben. Dieser Dialog hätte auch in einem Café am Helmholtzplatz stattfinden können. Oder wie sie durch ihren Garten führt … Die „Zone des Interesses“ ist von einer Mauer begrenzt, alles andere wird ignoriert.
Das Nazihafte steckt in uns Deutschen – davon war ich schon als Kind überzeugt. Im Alter von etwa 10 Jahren hatten meine Eltern mich in einer pädagogisch fragwürdigen Aktion nach Theresienstadt mitgenommen, wo ich das erste Mal die grausamen Bilder aus einem KZ zu sehen bekam. Seitdem wusste ich: Mein Volk hatte DAS getan.
Dies hätte nicht geschehen dürfen. Da ist irgendetwas passiert, womit wir alle nicht mehr fertig werden.
Hannah Arendt
Ich las viel über den Holocaust, der damals noch nicht so hieß, und die Nazis. Mich beschäftigte eine Frage: Wie konnte das passieren? Wie hat man Menschen dazu gebracht, diese grausamen Taten nicht nur hinzunehmen, sondern sie engagiert durchzuführen? In einer Szene in „The Zone of Interest“ erklären Ingenieure dem Lagerkommandanten, wie die Gasöfen funktionieren werden und wie man da noch mehr Opfer durchschleusen kann. So ganz deutsch, präzise und emotionslos.
lmmer wieder lauschte ich in mich hinein, ob sich das Böse hervorwagen würde. Wäre auch ich fähig, schlimmste Verbrechen zu begehen? Was müsste passieren, damit ich es tun würde? Reicht ein Befehl von oben? Gehorsam? Gruppendruck? Begeisterung? Pflichtbewusstsein? Wäre jeder Mensch dazu in der Lage?
Im Osten wurden wir ja zu genau diesen Tugenden erzogen. Das ist ein Punkt, über den ich in letzter Zeit viel nachdenke. Konformität war oberstes Gebot, frei nach dem japanischen Sprichwort:
Der vorstehende Nagel wird eingeschlagen.
Menschlichkeit war in der DDR ein hoher Wert, aber hauptsächlich in der Theorie. Praktisch hatten nur diejenigen Menschlichkeit verdient, die spurten – andere bekamen den eisernen Griff des Regimes zu spüren. Der ARD-Podcast „Diagnose: Unangepasst“ erzählt davon. Selbst ich, die ich systemkonfrom und nun ja, ziemlich angepasst durch die ersten 17 Jahre meines Lebens ging, bekam diese Unmenschlichkeit in bestimmten Situationen zu spüren: Fremdbestimmung, Bloßstellung und Erniedrigung vor anderen gehörten zum Alltag.
Wobei ich natürlich nicht sagen will, dass es das heute nicht mehr gibt. Hier im Prenzlberg wurde ich mal Zeugin, wie ein vermutlich gebildeter und wohlhabender Vater seinen etwa 10-jährigen Sohn dermaßen heftig runtergemacht hat, dass ich schon die Polizei holen wollte. Ich war mir nur nicht sicher, ob psychische Gewalt strafbar ist. (Wohl nur, wenn ein Gesundheitsschaden entstanden ist, aber der muss erst mal nachgewiesen werden.)
Empathielose Erziehung war im Osten Standard: Kinder standen stets in der Gefahr, „verwöhnt“ zu werden. Man kennt das von den Nazis: Abhärtung, Emotionslosigkeit, Anpassung waren Erziehungsziele. Kindliche Bedürfnisse? Haha, welche Bedürfnisse!
Kinder sollten vor allem funktionieren und den Alltag nicht aufhalten. Wer ganz starke Nerven hat, kann sich mal die mehrteilige MDR-Dokureihe „Die verlassenen Kinder“ (Triggerwarnung!) über Kinder, die zur Wendezeit in der DDR allein zurückgelassen wurden, anschauen. Wie scheißegal diese Kinder ihren Eltern waren und zum Teil heute noch sind, ist erschütternd.
Mein schlimmster Moment in dieser Doku war, als ein verlassener Junge als Erwachsener seine Mutter wiedertraf. Endlich konnte er die Frage loswerden, die ihn während seines ganzen Lebens im Heim beschäftigt hatte: Warum hatte die Mutter ihn zurückgelassen, aber den jüngeren Bruder mit in den Westen genommen? Wie versteinert presste die Mutter zwischen den Zähnen hervor: „Na, weil du nicht artig warst.“
Welche Schäden diese Art von Erziehung bei ganzen Generationen von DDR-Kindern hinterlassen hat, gehört endlich aufgearbeitet. Das Buch „Die Möglichkeit von Glück“ von Anne Rabe über eine Kindheit im Osten hat bei mir einige Wunden aufgerissen. Bis heute habe ich oft das Gefühl zu stören und nicht das Recht zu haben, irgendwo Raum einzunehmen. Geschweige denn, den Mund aufzumachen – vielleicht auch noch mit einer abweichenden Meinung.
Von Berufs wegen habe ich vor einiger Zeit Unterrichtsmaterial lektoriert und war erstaunt, wie stark im heutigen Schulsystem der Fokus auf Meinungsbildung, Demokratiebildung und der Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit liegt. Mir, meiner Generation und den vorigen im Osten fehlt diese Bildung. Bei uns war es untersagt, sich eine eigene Meinung zu bilden und die auch noch zu äußern. Die richtige Meinung wurde vorgegeben und die machte man sich dann gefälligst zu eigen.
Kritisches Denken wurde nicht nur nicht gefördert, sondern als etwas Negatives dargestellt. Verdammte Querulanten, die die schöne kollektive Harmonie störten! Diskussionen waren überflüssig, unangenehm und mussten schnell beendet werden, um den Konsens nicht zu gefährden – ein Muster, dass ich heute noch bei mir selbst und bei anderen Ostler*innen sehe.
Schon im Kindergarten sind wir mit einem Heldenkult aufgewachsen, der die Welt schematisch in Gute (Kommunisten) und Böse (Kapitalisten) einteilte. Erst langsam wird mir bewusst, dass diese Erziehung bis heute Spuren hinterlassen hat.
In diesem Artikel über Propaganda in russischen Kindergärten sagt die Psychologin Anastassija Rubzowa: „Etwas von der Propaganda wird ganz sicher bei den Kindern hängenbleiben. Was genau, können wir nicht vorhersehen. Wir wissen nur, dass Kinder noch mehr als Erwachsene zu Fragmentierung, Polarisierung oder Schwarzweißdenken neigen. Für sie existiert nur der gute Held oder der schlechte Bösewicht, da gibt es keine Grautöne. Die Propaganda festigt diese Polarisierung. Kinder, die damit aufwachsen, neigen auch später dazu, die Realität stark zu vereinfachen, sie künstlich in Schwarz und Weiß aufzuteilen.“
Die Fähigkeit, wegzusehen und Unangenehmes zu überspielen war hingegen in der DDR sehr nützlich. In dem oben erwähnten Podcast erzählt eine Frau, wie sie als Teenager auf eine geschlossene venerologische Station („Tripperburg“) verschleppt, dort wochenlang gefangen gehalten und schließlich in ein geschlossenes Jugendheim (Jugendwerkhof) gesperrt wurde.
In beiden Institutionen war sie gequält worden, um sie psychisch zu brechen. Irgendwie schaffte sie es, durch Abbitte bei ihren systemtreuen Eltern (Stichwort: Kritik und Selbstkritik) dem Jugendwerkhof zu entkommen. Sie kam also zurück in ihre ganz normale Schulklasse und dann geschah etwas Merkwürdiges: NIEMAND fragte sie, wo sie denn gewesen war und was sie erlebt hatte.
Ich kann natürlich nur spekulieren, aber vermutlich hätte ich sie auch nicht gefragt. Denn erstens hätte man uns vorher die vermeintlich anständige Meinung zu diesem Mädchen vorgegeigt. Und zweitens wäre sie in der Schule eine Ausgestoßene gewesen, der noch weniger Rechte zustanden als uns. Wer sich mit ihr gemein gemacht hätte, hätte sich selbst befleckt. Wegschauen und das Böse ignorieren war eine gängige Strategie.
„The Zone of Interest“ hat bei mir zu einer unangenehmen Erkenntnis geführt: Vielleicht ist es kein Zufall, dass der Rechtsextremismus gerade im Osten so stark ist. Vielleicht gibt es eine Kontinuität der Empathielosigkeit, die aus der Nazizeit bis heute nachwirkt, bis in meine Generation und vielleicht sogar noch weiter – im Osten noch stärker als im Westen. Wir müssen verhindern, dass sich der Kreis des Bösen wieder schließt.
Es ist geschehen – folglich kann es wieder geschehen.
Primo Levi
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Ich weiß nicht, ob das beruhigend ist: aber als zufällig im Westen geborener und sozialisierter Mensch (der gleichen Altersklasse) würde ich auch „für uns“ von einer Kontinuität der Empathielosigkeit und des Kults der Abhärtung sprechen.
Empathielosigkeit kann ja auf mehreren Wegen entstehen und die klassische schwarze Pädagogik der Nazis (und wohl auch der Kommunisten?) ist nur einer davon. Z.B. herrscht in vielen heutigen „sozialen Institutionen“ ein hoher Grad an Empathielosigkeit, der sich rein aus Überforderung, absurden Zielen, äußerem Wettbewerbsdruck (PISA!), personeller Unterbesetzung bzw. Gaga-Personalschlüsseln im Umgang mit Menschen speist. Die liebe „Leistungsgesellschaft“ halt. Ja, ich weiß, es ist nicht das Gleiche, aber manchmal zweifle ich, ob die Effekt wirklich so andere sind. Wo Empathie fehlt, fehlt Empathie – und die Folgen sind immer fatal, weil auf diesem Weg Menschen entstehen, die für vieles keine Sprache haben und sowohl sich selbst als auch anderen Menschen „merkwürdig empfindungslos“ gegenüberstehen.
Empathie braucht Zeit, eine gewisse Ruhe und dass „die Empathiespendenen“ noch Restressourcen haben. Eine entspannte Gesellschaft, die unanfällig wäre für Heldenkulte und das damit verbundene Abfeiern von Härte, sind wir jedenfalls nicht. Sonst wäre z.B. das hier nicht „das inoffizielle Lied der Europameisterschaft“, wie ich heute gelernt habe: https://www.youtube.com/watch?v=Acgy-3d4P6o&pp=ygUfZXJmb2xnIGlzdCBrZWluIGdsw7xjayBrb250cmEgaw%3D%3D
Vielleicht bin ich da hypersensibel, aber mMn hätten auch die Nazis dieses Lied so richtig knorke gefunden…
Hi Ardalan, ich gebe Dir insofern recht, als dass ich vor allem im Gesundheitswesen ein Ausmaß an Empathielosigkeit erlebt habe, über das ich ein ganzes Buch schreiben könnte. Eventuell ist das ein größeres gesellschaftliches Problem. Im Umgang mit Kindern finde ich den Kontrast sehr heftig und da sticht m. E. der Osten heraus. Ich kenne junge Paare, die den Kontakt mit den Ost-Großeltern (68-er!) abgebrochen haben aufgrund deren martialischer Erziehungsmethoden. Gibt es sicher auch im Westen, aber dort gab es mit der 68er-Bewegung, antiautoritärer Erziehung, Reformpädagogik und ganz allgemein der Demokratiebildung Gegenmodelle zu der von den Nazis geerbten schwarzen Pädagogik. Im Osten hat man teilweise bewusst nahtlos daran angeknüpft, z. B. bei den Jugendorganisationen, aber eben auch im Privaten. Die „Prinzipien“ wurden einfach von Generation zu Generation weitergegeben.
Hm. Im Westen darf man den Einfluss der Kirchen nicht übersehen. Das waren dort halt die Treiber von Konformität und Autoritätshörigkeit, die durchaus mit Gewalt durchgesetzt wurde. Nach meiner Erfahrung (mit 19 vom Osten in den Westen gegangen) ist das Hierarchiedenken hier viel stärker ausgeprägt und insbesondere die Frauen lassen sich von Konventionen erstaunlich stark einschränken. Meiner Generation (in den 80ern geboren) wurde zumindest theoretisch beigebracht, dass alle Menschen gleich sind. Aber gut, ich war 6 als die Wende kam.