Als Studentin habe ich mal in einem Café gearbeitet. Unmittelbar darüber befand sich eine Sprachenschule. Das Café war eher schlecht besucht, aber in den Pausen kamen die Sprachschüler*innen hereingeströmt, um ihren Pausencappuccino zu trinken. In meiner Schicht lief das reibungslos, denn ich lauerte immer schon mit einer Menge vorbereiteter Tassen auf den Ansturm. Aber wer aus dem Pulk von Menschen, die mir am Tresen ihre Bestellungen zuriefen, bekam den Kaffee zuerst? Immer die, die am lautesten schrien.
Obwohl ich mich darüber ärgerte und ich gelegentlich versuchte, auch die Leisen zu belohnen, indem ich ihnen einen Kaffee zuschob, gewannen fast immer die Lauten. Einfach, weil sie mir so auf den Nerv gingen. Ich wollte die loswerden, das Geschrei sollte aufhören. Dieses Prinzip funktioniert bis heute – in der Politik genauso wie in den sozialen Medien.
Es ist ein Verdienst des Internets – das schließlich von Introvertierten erfunden wurde –, auch den Leisen eine Stimme zu geben. Migrant*innen, alleinerziehende Mütter, Frauen generell, Behinderte, Klimaaktivist*innen, Wissenschaftler*innen, LGBTQ: Sie alle können sich im Netz viel besser bemerkbar machen und ihre Themen auf die gesellschaftliche und politische Agenda bringen.
Leider hat der Verstärkungsmechanismus der sozialen Medien aber einen Nachteil: Er funktioniert auch und besonders gut für diejenigen, die – wissentlich oder unwissentlich – kruden Schwachsinn verbreiten. Je bekloppter, desto mehr Aufmerksamkeit. Nur wer provoziert, wird im Rauschen des Netzes überhaupt noch wahrgenommen. Wer am lautesten schreit, wird gehört.
Das hat dazu geführt, dass auch in meinem Umfeld Menschen, die ich immer für rational und intelligent gehalten habe, fleißig Verschwörungsgeschwurbel teilen – oft auch noch getrieben von einem missionarischen Eifer („Wacht auf!“ 😀 ). Es scheint, als würden immer mehr Menschen in unserem realen oder Netz-Umfeld einem kollektiven Wahn verfallen. Die Definition von Wahn in der Psychologie passt: Dort gilt er als „unkorrigierbare Falschbeurteilung der Realität“. Sind denn alle verrückt geworden?
Erstens nicht alle, sondern nur bestimmte Menschen. Und zweitens sind Verschwörungstheorien in Zeiten von Pandemien normal – leider.
Verschwörungstheorien als Begleiterscheinung von Pandemien
In seinem Buch „Psychology of Pandemics“, erschienen kurz vor dem Ausbruch von SARS-Cov2 (Zufall??? Zufall??? 😀 ) beschreibt der Psychologieprofessor Steven Taylor von der University of British Columbia in Kanada das Auftauchen von Verschwörungstheorien als typische Begleiterscheinung von Pandemien:*
Für die nächste Pandemie dürfen wir das Auftauchen von Verschwörungstheorien über die Quelle oder Ursache des infektiösen Materials sowie über den Impfstoff (so vorhanden) erwarten.
Verschwörungserzählungen** sind ein in allen Kulturen verbreitetes Phänomen. In den USA glauben Studien zufolge 60 Prozent an einen verschwörerischen Komplott beim Mord an J. F. Kennedy, über ein Drittel meint, die Klimakrise sei ein Schwindel. Eine besondere Rolle spielen medizinische Verschwörungsmythen, die vor allem mit mangelndem Fachwissen zu tun haben. Schon das HIV-Virus wurde wahlweise als Strafe Gottes, Biowaffe oder geplanter Genozid interpretiert.
Zu Zeiten der Beulenpest im Jahr 1576 kursierte im italienischen Padua ein Pamphlet, in dem behauptet wurde, dass „böse Menschen die Krankheit weiterverbreiten, indem sie Türklinken mit infizierter Kleidung und giftigen Salben einreiben“. Während der Spanischen Grippe 1918 brachen sich antideutsche Ressentiments Bahn: Die Firma Bayer wurde verdächtigt, virusverseuchte Aspirintabletten in Umlauf zu bringen. Beide Geschichten stellten sich als unhaltbar heraus.
In jüngster Zeit gab das Zika-Virus Anlass zu Verschwörungserzählungen über eine globale Elite, die die Weltbevölkerung dezimieren wolle. Ob SARS, Schweine- oder Vogelgrippe: Die Mär von der Biowaffe, einem Terroranschlag oder einem elitären Komplott poppt immer wieder auf. Untersuchungen haben gezeigt, dass zwischen 12 und 37 Prozent der US-Amerikaner*innen an medizinische Verschwörungsmythen glauben. Am populärsten [Anm. von mir: vermutlich, weil eher niedrigschwellig] ist dabei die Vorstellung, dass wirksame Krebsmedikamente der Bevölkerung absichtlich vorenthalten werden – auf Druck der Pharmalobby.
Vielleicht hilft es, sich zu vergegenwärtigen, dass Verschwörungsmythen offenbar zum Menschsein dazugehören. In unsicheren Zeiten, während Krisen, die persönlich als bedrohlich empfunden werden, feiern sie Hochkonjunktur. Sie sind verführerisch, denn sie liefern einfache Erklärungen: Warum etwas passiert ist, wer davon profitiert und wer Schuld daran hat.
[Anm. von mir: Und diese Erklärungen sind oft auch viel spannender als die schnöde Realität der Wissenschaft. So ist z. B. die Vorstellung, dass ein Virus aus einem geheimen Labor entfleucht, einfach die bessere Story. Dass Viren die unangenehme Angewohnheit haben, mitunter vom Tier auf den Menschen überzuspringen, ist dagegen ziemlich langweilig. Hier kommt uns also die natürliche Neigung des Menschen zu Storytelling in die Quere.]
Das Dilemma: Verschwörungserzählungen sind nicht falsifizierbar. Wer versucht, sie zu widerlegen, wird einfach als Teil der Verschwörung diffamiert.
Wer ist anfällig für Verschwörungstheorien?
Wer einmal eine Verschwörungserzählung „geschluckt“ hat, ist auch offen für weitere: von 9/11 als inside job über die gefakte Mondlandung bis hin zu UFO-Sichtungen. Verschwörungserzählungen sind auch deshalb so erfolgreich, weil sie menschliche Bedürfnisse erfüllen: das Bedürfnis, die Welt zu verstehen, das Bedürfnis, sich sicher zu fühlen und die Dinge unter Kontrolle zu haben, das Bedürfnis, ein positives Bild von sich selbst und seiner In-Group aufrechtzuerhalten.
Die Forschung zeigt, welche Faktoren Menschen anfällig für Verschwörungsmythen machen:
- Aberglaube, magisches Denken, Glaube an das Paranormale [Anm. von mir: daher auch Esoterik als Einstiegsdroge]
- Narzissmus, manifestiert in der Überzeugung, dass man einzigartiges Wissen über Verschwörungen besitzt [Anm. von mir: Kein Wunder, dass diese Mythen in der heutigen narzisstischen Gesellschaft auf besonders fruchtbaren Boden fallen.]
- Sorge um die eigene Gesundheit und Sterblichkeit, speziell bei medizinischen Verschwörungsmythen
- Leichtgläubigkeit, mangelnde Medienkompetenz [Anm. von mir: „alternativen Medien“ wird geglaubt]
- Ablehnung von konventioneller Wissenschaft, Glaube an Pseudowissenschaft (z. B. die Kraft von Gebeten zur Heilung tödlicher Krankheiten)
Insgesamt deutet die Forschung darauf hin, dass Verschwörungserzählungen für Menschen attraktiv sind, die nach der Richtigkeit oder Bedeutung von für sie persönlich einschneidenden Ereignissen suchen – denen aber die kognitiven Ressourcen fehlen oder die andere Probleme haben, die sie davon abhalten, dies mit rationaleren Mitteln zu tun.
Wer schon mal versucht hat, mit Verschwörungsfans zu diskutieren, weiß vermutlich, was auch die Forschung herausgefunden hat: Es ist verdammt schwierig, jemanden aus diesem Irrglauben herauszuholen. Was jedoch ganz gut funktioniert: Menschen vorab mit Argumenten gegen Verschwörungsmythen zu versorgen – also bevor sie damit konfrontiert werden. Man könnte es eine Impfung nennen, hehe.
Falls es Euch aufgefallen ist: Ich spare mir hier jegliche Erwähnung bekannter oder neuentflammter Verschwörungsmeister*innen, denn ich möchte sie nicht mit meiner Aufmerksamkeit adeln. Ich möchte ihnen keine weiteren Opfer zuführen und ich möchte auch ihr Geschäftsmodell nicht unterstützen – denn das ist es letztendlich. Jeder Klick auf ein durchgeknalltes Youtube-Video lässt den Rubel rollen.
Das ist alles, was wir derzeit tun können: Die Schwurbler*innen ignorieren, sie ächten für das Leid, das sie verursachen. Für die sehr realen Folgen, die die Teilnehmer*innen an Anti-Corona-Demos, ihre Familien und Kolleg*innen, Polizist*innen und medizinisches Personal verkraften werden müssen.
Und uns immer wieder bewusst machen, dass diese Menschen in der Minderheit sind. Und einfach nur sehr laut.
Weiterführende Links
Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung zu Verschwörungsmythen
Interview mit der Psychologin Pia Lamberty, die zu Verschörungsmythen forscht
EDIT: Nicht erwähnt habe ich hier Verschwörungsmythen als Teil einer rechtsextremen Medienstrategie. Dazu gibt es hier ein Monitoring-Papier der Amadeu-Antonio-Stiftung.
*Alle ab hier aufgeführten Fakten stammen aus dem Buch „The Psychology of Pandemics“ von Prof. Steven Taylor und sind wissenschaftlich belegt. Anmerkungen von mir sind gekennzeichnet.
** Das Wort Verschwörungstheorien verleiht diesen frei erfundenen Geschichten den Anstrich einer seriösen theoretischen Grundlage, daher verwende ich im weiteren Verlauf des Artikels die Synonyme Verschwörungsmythen und -erzählungen.
Sehr guter Text mit viel Futter unterlegt.
Zur Begrifflichkeit habe ich heute „Verschwörungsglaube“ gehört, was ich sehr passend und ohne seriösen Anstrich empfinde. Im Englischen hat sich „conspiracy belief“ bereits durchgesetzt.
Ein Ziel das ich mir gesetzt habe um nicht dem ganzen Negativen alles zu überlassen ist es, immer öfter zu kommentieren. „Problem“ ist nur, dass ich dem nichts mehr wirklich hinzuzufügen habe, ist einfach wieder ein sehr runder, richtiger, wichtiger Blog von dir. Mach weiter so!