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Auf den Spuren meiner Vorfahren

Angefangen hat alles mit einem DNA-Test. Ich hatte wohl zu viele DNA-Reveal-Videos auf Youtube gesehen 🙂 . Jedenfalls schoss ich meine Bedenken, den Amis meinen genetischen Fingerabdruck zu überlassen, in den Wind und schickte meine Probe ein. Erstmal gab es keine Überraschungen: Ich bin halb Ost- und halb Westeuropäerin – und genauso fühle ich mich auch. 😀 Spannend war dann der nächste Schritt. Ich gab meine DNA frei, um zu sehen, mit wem ich verwandt bin.

Um es kurz zu machen: mit der halben Welt. Litauen, Polen, Ukraine, Russland, Deutschland, Schweden, Norwegen. Die meiste DNA-Übereinstimmung (wenn auch netto sehr wenig) habe ich mit drei US-Amerikanerinnen. Ein Hinweis darauf, dass einige meiner Vorfahren die Reise über den großen Teich angetreten haben. Bisher sind alle angezeigten Verwandten Cousins und Cousinen 3., 4. und 5. Grades oder deren Kinder. Das Schöne ist aber, dass immer neue hinzukommen. Ich warte also noch auf die große Überraschung.

Wenn man so eine klitzekleine und dysfunktionale Familie hat wie ich, ist es mindblowing zu sehen, dass man doch Teil eines weltumspannenden Netzwerks von Menschen ist. Irgendwie beruhigend, aber auch Demut heischend zu erfahren, dass man seine DNA mit über 6.000 Menschen teilt. Irgendwie relativiert das auch vieles. Man ist halt nur ein kleines Blatt am Baum der Generationen.

Ich scrollte durch die vielen entfernten Verwandten und machte eine Entdeckung: Meine halblitauische Oma erzählte immer, dass ihr Nachname nicht nur im Deutschen verballhornt wurde, sondern schon zuvor im Litauischen. „Eigentlich heißen wir Soundso.“ Und guess what, unter den DNA-Matches entdeckte ich eine Cousine x-ten Grades, die den ursprünglichen litauischen Nachnamen trägt. Sie ist Sängerin wie meine Oma und macht was mit Marketing und Fernsehen, so wie ich früher. Auffällig viele meiner Vorfahren haben etwas mit Musik oder Film zu tun. Aber dazu später mehr.

Nach diesem ersten Erfolgserlebnis geriet die DNA-Website bei mir in Vergessenheit, bis ich beim Aufräumen einen Karton mit alten Fotos fand (und mit „alt“ meine ich diese silbrig schimmernden Aufnahmen, die auf Pappe gezogen sind, mit einem in Gold geprägten Logo des Fotostudios). In dem Karton lag ein schreibmaschinengeschriebener Zettel mit einer Art Stammbaum über 7 Generationen. Also, von mir aus betrachtet sogar 9. Als großer Buddenbrooks-Fan stellte ich begeistert fest: Einer meiner Vorfahren war ein Kaufmann aus Lübeck. 🙂

Sofort war klar: Diese Daten musste ich in die Online-Datenbank eingeben, um durch weitere Matches den Familienstammbaum immer weiter aufzubauen. Und so sitze ich nun jeden Sonntagvormittag und füge weitere Familienmitglieder hinzu. Mittlerweile sind mir ihre Namen vertraut: Franz Matthias, geb. 1755, und seine Frau Sophia Maria, die mit 23 Jahren ihr erstes Kind bekam und mit 32 das achte, woraufhin sie mit 33 Jahren verstarb. Eines der Kinder, der kleine Georg Friedrich Sophus, kam mit 6 Jahren ums Leben.

Ein Hoch auf die deutschen Kirchenbücher, in denen jede Geburt, Taufe, Heirat und jeder Todesfall akribisch verzeichnet und über Jahrhunderte aufbewahrt wurde. So kann ich heute, 9 Generationen später, feststellen, dass die Namen Amalie und Dorothea in meiner Familie der totale Hit waren. Manche Eltern waren so begeistert, dass sie diese Namen sogar mehrfach für ihre Kinder verwendeten: Anna Amalie und Johanna Amalie Dorothea sind zum Beispiel Schwestern. Johann und Friedrich waren äußerst beliebt, aber auch Julius und Theodor. Ein bisschen liest sich der Stammbaum wie eine Namensliste aus einem Prenzlberger Kindergarten. 😛

Aber hey, was ist denn da los? Da hat der Hermann eine Frau geheiratet, die schon vor der Hochzeit seinen Nachnamen trug. Eine Cousine? Ups!

Manche Verwandte kann ich noch nicht zuordnen und packe sie irgendwohin in den Stammbaum. Dann bekomme ich eine Nachricht von der Website: „Die Plausibilitätsprüfung hat ergeben, dass die Mutter bei der Geburt von Leopold über 100 Jahre alt war.“ Na, endlich ist die verdammte KI zu etwas gut. 😉

Wenn man einmal anfängt, sind die online verfügbaren Daten irgendwann nicht mehr genug. Nächster Stopp – Bundesarchiv, das sich praktischerweise größtenteils in Berlin befindet. Leider ist Deutschland auch bei der Digitalisierung von Archiven etwas hinterher. Man kann zwar online recherchieren, muss sich die Akten dann aber schön analog vor Ort anschauen.

Hinzu kommt der strenge Datenschutz. Das Bundesarchiv hat mir eine Akte nur sehr zögerlich zugänglich gemacht, weil sie personenbezogene Daten (wohlgemerkt von Verstorbenen) enthielt. Konkret hieß es:

„Bei der Akte mit der Signatur … handelt es sich um eine Akte des Rasse-
und Siedlungshauptamtes SS. In diesen Akten können sensible Gesundheitsdaten zur Person enthalten sein. Medizinische Details sind hier oftmals in zeitgenössischen Formulierungen wiedergegeben, die auch heute noch als herabwürdigend empfunden werden können. Grundsätzlich gebieten der postmortale Würdeschutz sowie das allgemeine Persönlichkeitsrecht von möglicherweise noch lebenden Dritten, sensibel mit Informationen
aus dem privaten Lebensbereich umzugehen.“

Postmortaler Würdeschutz?! Einerseits toll, andererseits auch ziemlich nerdig und irgendwie deutsch. (Im polnischen Online-Archiv heißt es: „Hier sind 624 unsortierte digitalisierte Akten für dich. Viel Spaß!“) Jedenfalls bestellte ich 5 Akten, die scheinbar meiner Familie zuzuordnen waren.

Das Bundesarchiv ist am anderen Ende der Stadt. Wie ein Ufo liegt es da, inmitten einer Grünanlage.

Adieu Tristesse, bonjour Abenteuer!
Beige halbrunde Sitzgruppe im Foyer des Bundesarchivs mit besonders hohen Lehnen, in der Mitte ein runder Holztisch
Ein Paradies für Introvertierte: Wer Ruhe sucht, ist im Bundesarchiv richtig.

Ich war so aufgewühlt, dass ich fast am Anmeldeprozess gescheitert wäre. 😀 Das ist das Schöne im Leben, dass es immer wieder erste Male gibt. Irgendwann saß ich endlich im Lesesaal, neben Geschichtsstudierenden, die sich routiniert durch Mikrofilme klickten. Vor mir lag ein Stapel Akten.

Als ich die erste Akte aufschlug, fand ich das mit dem Würdeschutz durchaus gerechtfertigt. Es ging um einen SS-Mann, der eine „Heiratserlaubnis“ bei seinem Vorgesetzten einholen musste – allein das ist schon völlig daneben. Wahrscheinlich sollte sichergestellt werden, dass die „saubere deutsche Rasse“ nicht verunreinigt wird. Beide haben also ihr Ariertum nachgewiesen, aber damit nicht genug. Die Frau wurde gynäkologisch untersucht und ihre „Beckenmaße“ und ihre „unregelmäßigen Regelblutungen“ in einem gynäkologischen Befundbericht bewertet. Ein bisschen wie bei einer Zuchtkuh.

Es stellte sich heraus, dass diese Frau nicht Teil meiner Familie war – sie trug zufällig den gleichen Namen wie eine Großtante. Damit ist auch der SS-Mann raus. Puh! Allerdings habe ich bereits ein NSDAP-Mitglied gefunden: Großonkel Waldemar war Kameramann und vermerkte auf seinem Beitrittsantrag zur Reichsfilmkammer stolz, seit wann er schon Mitglied in der Nazipartei war.

Altes Antragsdokument mit dem unterstrichenen Satz: "Nicht vom Antragssteller auszufüllen"
Some things never change

Waldemar hat in den 20ern Stummfilme gedreht (ich warte noch auf eine Antwort vom Filmarchiv, ob die Filme noch erhalten sind, um sie mir anzuschauen) – darunter neben „biologischen“ Filmen (wasn das, Pornos?!) auch Lehrfilme für das Ausbildungswesen der Wehrmacht.

Ein großes Rätsel bleibt, neben den US-amerikanischen Verwandten, wie (und vor allem warum) meine Verwandten aus Schleswig-Holstein nach Moskau und Odessa gezogen sind und wieder zurück nach Berlin.

Letzteres hatte wohl mit der großen „Heim ins Reich“-Aktion zu tun, bei der Hitler die sogenannten „Reichsdeutschen“ z. B. aus dem Baltikum, Bessarabien, Russland und Südtirol ins „Reich“, vor allem die eroberten Gebiete in Polen, umsiedeln wollte. Die Recherche zu meiner Familie zieht mich unweigerlich in die großen Ereignisse der Zeitgeschichte hinein: Kriege, Umsiedlung und Flucht, sich ständig verschiebende Grenzen und wechselnde Staatsangehörigkeiten. Ich google plötzlich Worte wie „Einwanderungszentrale“ und „Umsiedlungslager“.

Eine Lüge habe ich auch schon aufgedeckt: Die Familie meines litauischen Urgoßvaters, die aus seiner deutschen Ehefrau und einem „Mischfall“, meiner Oma, bestand, gab im Einwanderungsantrag (jaja, es sind eine Menge Anträge und Bescheide in den Akten) an, „völlig im Deutschtum aufzugehen“ und „in der Familie fließend Deutsch“ zu sprechen.

Ausschnitt aus dem Einbürgerungsantrag mit roten Stempeln "Mischfall" und "Eingebürgert"
Der „Mischfall“ aka meine Oma
Bildschirmfoto des Einbürgerungsantrags: "Stellungnahme der Deutschen Volksgruppe: Antragssteller ist litauisch, Ehefrau dt. Abstammung, Antrag mit Tochter, sprechen fliessend (sic!) Deutsch, sind im Deutschtum völlig aufgegangen. Keine Bedenken gegen Einbürgerung."
Meine Oma, die zur Aufnahmeprüfung fürs Gesangsstudium in Berlin mit einem patriotischen litauischen Lied antrat, ist angeblich „im Deutschtum völlig aufgegangen“. Is klar.

Das kann nicht stimmen, denn ich erinnere mich, dass meine in Litauen aufgewachsene Oma nach eigener Aussage erst als Erwachsene richtig Deutsch lernte – das allerdings perfekt. Trotzdem rollte sie noch lange das R und ab und zu unterliefen ihr putzige Fehler wie „Mensch, du bist ein Ast!“

Immerhin kamen sie mit der Lüge durch und schafften es, vor dem Einmarsch der russischen Armee in Litauen nach Deutschland zu fliehen. Aber die Rote Armee holte sie ein: 1945 stand sie buchstäblich vor der Tür und quartierte sich im Haus meiner Familie ein. Mein litauischer Urgroßvater, der sieben Sprachen beherrschte und laut Akte auf einer russischsprachigen Schule gewesen war, stellte sich dumm – aus Angst.

Personalakten aus DDR-Zeiten sind ebenfalls eine Fundgrube. In seinem handgeschriebenen Lebenslauf bezeichnet sich mein russlanddeutscher Urgroßvater als Kommunist und KPD-Mitglied der ersten Stunde. Trotzdem schien er nichts dagegen gehabt zu haben, dass seine Söhne als in Russland geborene und aufgewachsene Deutsche gegen die Rote Armee kämpften. Alles ganz schön crazy.

Neben den Litauer*innen und den Russlanddeutschen entdeckte ich einen unserer Familennamen (es hilft, einen seltenen Namen zu haben – bei Krüger ist es viel schwieriger) in Texas. Davon hatte ich noch nie gehört. Durch exzessives nächtliches Googlen fand ich nicht nur den Beweis, dass der erste US-Auswanderer wie der Rest der Familie aus Schleswig-Holstein stammte.

Ich entdeckte seinen Namen und die seiner Familie auf der Passagierliste eines Immigrantenschiffs, das 1854 von Bremen nach New Orleans gefahren war. Schnell gegooglet: Dampfschiffe gab es noch nicht und segelnderweise dürfte die Familie 6 Wochen unterwegs gewesen sein. Immerhin gehörten sie zu den wenigen Passagier*innen, die sich eine eigene Kabine leisten konnten. Der reiche Onkel aus Amerika! 😀 Praktischerweise haben die USA alle 10 Jahre eine Volkszählung durchgeführt, so dass ich gut nachvollziehen kann, wann welche Familienmitglieder wo gewohnt haben. Bisher habe ich noch nicht herausgefunden, wo im Stammbaum die Texaner*innen hingehören.

Und auch der Erfinder von Filmkameras, der sogar einen russischen Wikipedia-Eintrag hat, muss irgendwie mit mir verwandt sein. Von ihm fand ich Patentanmeldungen von 1920 in einer französischen Filmzeitschrift.

„Was bringt dir das?“, fragt mich ein Freund. „Die sind doch alle tot.“ Nun, die Toten stellen sich als überraschend aufregend heraus. Für mich ist es wie eine Online-Ostereiersuche. Das Recherchefieber hat mich gepackt. Jeder Fund ist ein Glücksgefühl. Ich steige ein in eine andere Welt, die doch ein bisschen mit mir zu tun hat.

Und das sind nur die ersten beiden Zweige der Familie. Freut Euch auf die Fortsetzung zum Thema „Was haben meine Großväter im 2. Weltkrieg gemacht?“

PS: Es gibt einen ziemlich lustigen Film für den Weihnachtsabend auf Prime, der zeigt, was DNA-Tests so anrichten können. 😉 Frohe Weihnachten!

Fotos Akten und Bundesarchiv: Lydia Krüger

Titelfoto: Rach Teo auf Unsplash

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8 Kommentare

  1. Peter Wohlgemuth

    Hallo & schöne Weihnachten wünschend 🙂

    Sehr interessant & gut geschrieben. Was mir fehlt, wäre der Anbieter & die Kosten für solche einen DNA-Test zur Vorfahrenbestimmung.

    Freundliche Grüße sendet

    Peter W.

    • Hi, also, es gibt verschiedene Anbieter, ich wollte gar keine Werbung dafür machen. Meiner ist MyHeritage, das dürfte der günstigste sein. Für Männer gibt es noch einen Test, der über das Y-Chromosom Informationen über die männliche Abstammung ermitteln kann, das ist aber ein anderer Anbieter. Manche offerieren auch Gesundheitsinfos. Einfach mal googlen nach DNA-Test. Noch ein Hinweis: Familienforschung funktioniert auch ohne DNA-Test, wenn man ein paar Ausgangsdaten hat. Ich würde aber auf jeden Fall einen Online-Stammbaum anlegen, denn darüber bekommt man Hinweise auf Familienmitglieder in anderen Stammbäumen und kann die dann mit einem Klick übernehmen. Viel Spaß und ebenfalls schöne Weihnachten!

  2. Skully

    Hallo Lydia,
    das ist ja mal eine schöne Bescherung die dein Post abliefert. Im positiven gemeint. Nun, als geschichtsinterressierten Menschen, finde ich deine „Geschichte“ hochspannend! Danke fürs teilen. Es ist ja ganz erstaunlich was du so zu Tage bringst. Aber Recherche ist ja auch dein Ding. Freue mich auf eine Fortsetzung. Liebe Grüße aus Stuttgart und komm gut ins neue Jahr. Steffen.

    • Liebe Grüße aus Berlin zurück, Steffen! Ja, sieht so aus, andererseits sind zu viele Dinge mein Ding. 😉 Dir auch einen guten Rutsch!

  3. Auch ich bin gespannt auf die angekündigte Fortsetzung! 🙂

    • Also, ich bin auch gespannt. 😀 Habe bisher noch keine Antwort von dem zuständigen Archiv. Die werden wohl immer von Anfragen überrannt, wenn irgendwo ein Artikel zum Thema „Was hat Opa eigentlich im 2. Weltkrieg gemacht?“ erscheint. Aber ich werde hier berichten. Schöne Grüße und ein gutes neues Jahr.

  4. Eva

    Liebe Lydia,

    welche Seite nutzt Du hauptsächlich für Deine Suche, bzw. „Stammbaumausgabe“? Ich hab das einmal versucht, weiss nicht mehr genau wo, und da habe ich Monate gebraucht, um das Abo loszuwerden…

    Ich würde auch gerne recherchieren, hätte auch einen Stammbaum, den mein Vater gemacht hat, aber ich zögere bei der Auswahl des Anbieters…

    herzliche Grüße und ein gutes neues Fokus-Jahr!

    Eva

    • Hi Eva, ich bin durch den DNA-Test bei MyHeritage hängengeblieben. Habe da auch zwischenzeitlich ein Abo. Familysearch (Mormonen!) ist kostenlos und hat sehr viele Daten, aber auch viele Fehler. Ancestry digitalisiert viele Archive weltweit, u. a. deutsche Kirchenbücher. Eigentlich ein Unding. Ancestry-Abos gibt es auf den Rechnern in einigen Archiven und Museen, z. B. in Berlin im Dokumentationszentrum Flucht. Einige Anbieter sind miteinander vernetzt, sodass man dann auch von dort Treffer bekommt. Viel Spaß und Dir auch ein fröhliches Neues!

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