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Allein unter Wessis

Meine Güte, hätte ja nicht gedacht, dass ich DIESES Fass noch mal aufmache. Oder überhaupt aufmache. Ich hab ja lange gedacht, ich steh über dieser Ossi-Wessi-Thematik. Um nicht zu sagen, ich hab immer für eine ordentliche Distanz zum heimischen Osten gesorgt. Also eine mentale Distanz**, ich wohne ja im Osten Berlins. Allerdings wohne ich im verwestlichtsten Teil des Ostens, im durchgentrifizierten Prenzlberg. Um mich herum nur Leute aus Schwaben und dem Sauerland. 😀 Aber dann gibt es so Phasen, wie neulich anlässlich von 30 Jahren Mauerfall, da komm ich nicht am Osten vorbei.

Das liegt auch an der von mir abonnierten Berliner Zeitung, die sich neuerdings wieder stärker des Ostens annimmt – aber nicht auf diese schmierig-nostalgische Weise wie die SuperIllu, sondern um einiges intelligenter. Die pikst mich immer wieder, so dass ich mich doch mit meiner inneren Ostlerin auseinandersetzen muss.

Vor ein paar Tagen fand ich dort ein Interview mit einer Entwicklungspsychologin. Und da ich mein Psychologiestudium wieder aufgenommen habe, habe ich das natürlich mit großem Interesse verschlungen (und sogleich entsorgt, weil ich zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, dass ich darüber bloggen werde. Und online hab ich das Interview auch nicht gefunden, sodass ich den Inhalt jetzt nur aus dem löchrigen Gedächtnis zusammenkratzen und nicht mal den Namen der Forscherin nennen kann, sorry).

Diese (westdeutsche) Wissenschaftlerin erforscht an der Hebräischen Universität in Jerusalem kulturelle Unterschiede in der kindlichen Entwicklung. Sie berichtete von einem Experiment, in dem je drei Kinder gemeinsam ein Legebild zusammenbauen sollten – die erste Gruppe bestand aus palästinensischen Kindern, die zweite aus deutschen. Die drei palästinensischen Kids taten genau das und kooperierten miteinander. Bei den Deutschen jedoch wollte jedes Kind das Puzzle allein zusammensetzen. „Ich kann das allein“, sagte eines der Kinder.

Dieses Forschungsergebnis wurde – jetzt kommt’s – mit dem unterschiedlichen Aufwachsen begründet: In der Psychologie spricht man von Independenz, also Unabhängigkeit, und Interdependenz, wechselseitiger Abhängigkeit. Wer in einer independenten Kultur (z. B. Westdeutschland, USA) aufwächst, sieht sich selbst als Individuum in Abgrenzung zum Rest der Welt. Wer in einer interdependenten Kultur aufwächst, lernt, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen und zuerst die Interessen der Gemeinschaft zu berücksichtigen (z. B. Japan, Israel). Oder anders ausgedrückt: Kooperation oder Konkurrenz?

Das zu lesen, hat irgendwas in mir ausgelöst. Ich hab mich sofort gefragt: Hat das jemand mal an ost- und westdeutschen Kindern oder Erwachsenen getestet? Da gibt’s doch bestimmt was. Wenn ich etwas mehr Zeit habe (haha!), werde ich das mal recherchieren und dann hier berichten. Falls jemand aus der Psycholog*innen-Bubble hier was weiß – her damit!

Kooperation vs. Konkurrenz

In diesem Moment musste ich nämlich an die vielen merkwürdigen Erlebnisse in meiner kurzen Zeit bei einem Münchener TV-Sender denken. Zum Beispiel diese eine Kollegin, die nicht in der Lage war, mit mir zusammenzuarbeiten. Das war gar kein böser Wille. Sie konnte das einfach nicht. Es funktionierte nur so, dass abwechselnd entweder sie etwas an unserem Beitrag machte oder ich. Da war null Kooperation.

Einmal – bei demselben Sender – saß ich im Schnittraum und fragte den Cutter beiläufig, welche Schnittvariante er besser fand. Der rollte nur genervt mit den Augen: „Du bist hier die Autorin, nicht ich!“ Ich war total geschockt. Der stellte mich hin, als hätte ich keine Ahnung. Dabei hatte ich sehr wohl eine Idee, ich wollte einfach nett sein und ihn beteiligen. Austausch, Alter!! So auf Augenhöhe, damit er sich nicht wie ein Dienstleister fühlt. In meinen Augen war seine Reaktion asoziales Verhalten. Ich rannte raus und rief heulend einen (westdeutschen) Freund an. Was waren das nur für Menschen in diesem Laden, ich verstand nix mehr. Alle waren Einzelkämpfer*innen. Ich könnte einen ganzen Blogbeitrag füllen nur mit solchen Geschichten.

Kollektivismus vs. Individualismus

Ich kannte ein ähnliches Konzept schon aus der interkulturellen Kommunikation: Der Kulturwissenschaftler Geert Hofstede spricht von kollektivistischen und individualistischen Kulturen. Insofern war mir klar, dass ich aus einer kollektivistischen Kultur (DDR, Sowjetunion) stamme, wo ich von klein auf immer in ein Kollektiv (Kinderkrippe und -garten, Gitarrengruppe, Chor, Schulklasse bzw. Brigade, Hort, außerschulische AGs, Ferienlager usw.) eingebettet war. Und dass ich mit der Wende plötzlich in eine stark individualistische Kultur in Westdeutschland und in den USA (wobei die USA da wohl unschlagbar weit vorne sind) katapultiert wurde.

Im Übrigen ist so eine hoch individualisierte Gesellschaft ganz praktisch für den Kapitalismus. „Jeder kämpft für sich allein“ bedeutet ja auch, dass jeder allein (oder maximal zu zweit) für die Miete ackert, jeder seine eigene Waschmaschine kauft, sein eigenes Auto abbezahlt usw. Für die Konjunktur ganz praktisch, für die Umwelt weniger. Wenn Leute sich wundern, wie sich Menschen aus armen Ländern die teure Flucht nach Europa leisten können, kann ich nur mit den Achseln zucken. Kollektivistische Gesellschaft halt: Die ganze Familie packt ihr Geld zusammen und dann schicken sie den Hoffnungsträger der Familie los. Da kommen schnell ein paar Tausend Euro zusammen.

Habt Ihr mal ausgerechnet, wie viel Vermögen Eure Familie hätte, wenn Ihr alle eine gemeinsame Kasse hättet? Das ist schwierig, weil Ihr vermutlich nicht mal wisst, wer wie viel auf der hohen Kante hat. Aber als Großfamilie mit ein paar Normal- bis Gutverdiener*innen könntet Ihr Euch vielleicht ein Schloss irgendwo in MeckPomm leisten. Nur – dann müsstet Ihr auch alle zusammen darin wohnen, so wie die Kelly Family. Und das will nun wirklich niemand. 😉

Wunderwerk Teamwork

Ich will jetzt hier gar nicht die Fahne des Kollektivismus schwenken, ich weiß meine individualisierte Existenz durchaus zu schätzen. Aber ich bin nun mal durch die Wir-Kultur meiner Kindheit und Jugend geprägt. Und ich vermute mittlerweile, dass sich das auch in der Arbeitswelt bemerkbar gemacht hat. Seit dem Mauerfall waren alle meine Jobs im Westen. Das war keine bewusste Entscheidung, da gab es halt Jobs. Ich landete dadurch in einer Arbeitswelt, in der viele ihr eigenes Ding durchzogen und sich permanent abgrenzten – und in der gleichzeitig das hohe Lied der Teamarbeit gesungen wurde.

Ey, und ich hab mich immer gewundert, warum im Westen penetrant von Teamwork und Teamplayern und Teambuilding die Rede war. Für mich war das ja normal, ich wusste, wie es ging. Mein ganzes Leben war ein einziges Teambuilding gewesen. Ich bekomme auch oft das Feedback, dass ich Teams gut aufbauen und zusammenhalten kann. Tja, gute alte Ostschule! Teams funktionieren halt auch, indem man sich als Einzelperson dem großen Ganzen unterordnet. Schwierig wurde es immer dann, wenn im mühsam gebuildeten Team plötzlich die Individualist*innen durchknallten. 😛

Übrigens schreibe ich diesen Artikel nicht, um zu spalten, sondern weil es mich fasziniert, wie unterschiedlich wir Menschen ticken. Und vielleicht können wir ja so besser verstehen, warum das so ist. Oder überhaupt mal dieses ganze komplizierte Leben verstehen.

Innerhalb von Kulturen findet man ja auch große individuelle Unterschiede. Es gibt überall solche und solche (fast alle meine Freund*innen sind aus dem Westen 😛 ). In den aktivistischen Kreisen, in denen ich neuerdings unterwegs bin, kennt man die kollektivistischen Spielregeln. Ich war richtig verwirrt, als ich gemerkt hab: Hier läuft’s bisschen so wie früher, wenn nicht sogar besser. Aber in der klassischen HORG-Welt (und da vor allem in der Führungsetage) gibt es keine Allianzen. Jeder kämpft für sich allein. Jeder klammert sich an seiner Maske fest.

Ein Kollektivist im Vorstand

Und jetzt kommt schon wieder die Berliner Zeitung ins Spiel: Da berichtet Lars Dittrich, der selbst im Osten ein erfolgreiches Unternehmen aufgebaut hatte und dann in den Vorstand eines westdeutschen Konzerns wechselte, welche Probleme er dort hatte. Er suchte beispielsweise als Vorstand den Kontakt zu den Mitarbeiter*innen, er grenzte sich eben gerade nicht ab. Aber bei seinen Leuten in der Führungsetage kam das nicht gut an:

Die konnten mit meinem Kollektivgedanken und Gemeinschaftssinn nichts anfangen.

Es geht vor allem um Indivualkarrieren und Selbstverwirklichung. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass alle zusammen ein Unternehmen ausmachen können. Da bin ich Romantiker und glaube an die Mannschaft.

Ich glaube, die konnten mich einfach nicht lesen. Dass ich für andere nicht berechenbar war. Ich musste ja auch irgendwie in eine Matrix passen. Das war aber schwierig mit mir […].

Ja, dieses Gefühl kenne ich so gut. Das kann ja auch ein Vorteil sein, wenn einen niemand lesen kann 😉 , aber es macht die Zusammenarbeit nicht unbedingt leichter. Im Umkehrschluss könnte ja auch ich Probleme gehabt haben, die anderen (Wessis) zu lesen, und – Bingo, das würde ich sofort unterschreiben. Sehr rätselhaft waren die teilweise.

Seit einiger Zeit arbeite ich zufällig mit Ostler*innen zusammen und – ich tu mich schwer, es zu sagen – es ist wie nach Hause kommen. Bei allem, was ich am Osten hasse (seine Kleingeistigkeit, seine Verbitterung, seine fucking AfD-Wähler*innen, um nur einiges zu nennen) flutscht es einfach mit der Zusammenarbeit. Es kann so einfach sein. Wir sprechen die gleiche Sprache, immer noch, nach all den Jahren. Wir können einander lesen.

**Das hier ist eigentlich der zweite Teil zu einem noch unveröffentlichten Artikel, indem es darum geht, warum ich den Osten hasse. 😀

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6 Kommentare

  1. Eine Leserin

    Hm. Ich, westdeutsche Dörflerin, komme aus einer sowas von kollektivistischen Kultur, auch im Studium nochmal recht egoless geprägt. Andere Professionen, West- und Ostdeutsche Vertreter, erlebe ich als Ellbogenmenschen. Einige Ostdeutsche, die ich kenne, lehnen jede Form der Selbstbeschränkung zugunsten eines Gemeinwohls vehement ab. Daher auch die Verteilung in der Parteienlandschaft im Osten, imho. Ich bin nicht überzeugt.

  2. Interessant. ich hab die Teamarbeit im Osten nur zwei Jahre mitbekommen. Ich kann nicht sagen, dass dich das Unterschied. Das mit der gemeinsamen Sprache empfinde ich aber genauso.

  3. Gerwin

    Ich als „Ösi“ kenne das auch ein bissl: kollektivistische Landeier vs. Ego-Stadtmenschen…

    • Lydia

      Das ist ein spannender Blickwinkel! Ich bin ja quasi in einem „Dorf innerhalb einer Großstadt“ aufgewachsen …

  4. Tilo

    Danke für Deine Gedanken.
    Und auch dafür, das ich nun jedesmal laut oder leise lachen muss, wenn Politiker oder auch mein Abteilungsleiter (klassisches HORG) zum Thema Teamarbeit schwadronieren.

  5. June

    stümmt, ganz und gar.

    ich hatte mal eine Interaktion mit einer Person, die mich aufgrund meiner Sprache (non-ostdeutsch durch jahrelange Logopädie, aufgrund eines echt doofen sprachfehlers nötig, nicht wegen der Herkunft), jedenfalls, die Person mir gegenüber meinte mich im Besser-Wessi-Lager zu wissen und meinte:
    „Ach diese Ossis! Sie haben es ja auch schin mal wahrgnommen…, nicht wahr? (…) Sooo pragmatisch: Kaum ein Problem, wird nicht ein Arbeitskreis gegründet, sondern das Problem gelöst!“
    Allerdings habe ich ich ein Kollegin, die ümma für eine Person ostdeutscher Herkunft gehalten wird, da sie so pragmatisch veranlagt ist.
    Was lernen wir draus? – nicht nur Herkunft sondern auch das Individuuum machts.
    Dennoch: Ich sehe mich im Artikel erkannt, danke!

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