Was haben meine Großväter im Zweiten Weltkrieg gemacht? Die Antwort von der Wehrmachtsauskunftstelle war schon vor einigen Wochen gekommen. Erst mal nahm ich mir meinem Großvater väterlicherseits vor, denn bei ihm ist es wahrscheinlicher, dass er an Kampfhandlungen beteiligt war. Die Informationen über ihn bestanden aus einer Karteikarte zu seiner Wehrmachtszugehörigkeit sowie einer Karteikarte aus der US-amerikanischen Gefangenschaft. Dazu ein Begleitschreiben aus dem Archiv, dass die Stationen seiner Dienstzeit aufzählte. Das war’s. Für mich waren darin zwei Überraschungen enthalten.
[Triggerwarnung: Krieg, Tod, Elend. Bitte lest den Text nicht, wenn es Euch gerade nicht gut geht. Die fraglichen Passagen sind durch Kursivschrift markiert.]
1. dass die Soldaten und Offiziere anscheinend ständig neu gruppiert und versetzt wurden – das war mir nicht klar gewesen. Und 2. dass ich nun selbst herausfinden musste, welches seiner Bataillone wo gekämpft hatten. Wehrmachtsforen und -lexika durchforsten – ich kann mir Schöneres vorstellen.
Wie so oft hatte ich erst mal hatte ich die Dokumente erst mal überflogen und dann liegengelassen. Gefangengenommen 1945 von den Amerikanern in Clerf, das musste ich kurz googlen. Luxemburg, aha. Ich wusste, dass mein Großvater von den Amerikanern gefangengenommen worden war – das hieß Westfront. Immer noch besser, als wenn er am Vernichtungskrieg im Osten teilgenommen hatte, dachte ich früher immer. Für mehr habe ich mich nie interessiert.
Ich muss dazu sagen, dass ich meinen Großvater väterlicherseits nie kennengelernt habe. Er starb drei Monate nach meiner Geburt im Alter von 56 Jahren. Was mein Vater mir von ihm erzählt hat, hinterließ bei mir den Eindruck, dass er ein ziemlich harter Mann war. Aus der US-amerikanischen Gefangenschaft hatte er Schokolade mitgebracht (die von meinem Vater damals als „Kaka“ verschmäht wurde) und aus dem Krieg ein Holzbein.

Neulich fiel mir also die Karteikarte meines Großvaters wieder ein und ich beschloss, dieser Luxemburg-Sache auf den Grund zu gehen. Bei der Recherche stieß ich schnell auf Hitlers Ardennenoffensive, das letzte Aufbäumen an der Westfront. Ein Überraschungsangriff aus dem Wald – militärisch der Wahnsinn, hat ja wohl auch nicht funktioniert. Über eine Million Soldaten waren beteiligt, allein 20.000 US-Amerikaner der 12th Army Group ließen dort ihr Leben. Dort hat mein Großvater also gekämpft, im Januar, im tiefverschneiten Wald bei Minusgraden, und wurde dann gefangengenommen. Später landete er durch einen Gefangenenaustausch in einem Lager in Schottland.
Die große Flucht
Währenddessen war seine Ehefrau, meine Großmutter, mit den beiden kleinen Kindern von Ostpreussen auf der Flucht gen Westen. Wie zum Hohn war ausgerechnet dieser Winter 1944/45, in dem Millionen Menschen in Europa auf der Flucht waren, einer der kältesten überhaupt, mit Temperaturen um -25 Grad. Ich habe das Buch „Die große Flucht“ von Guido Knopp angefangen zu lesen und es ist wirklich schrecklich. Seite für Seite nur Elend und Grausamkeiten.
Auf der Flucht sind Babys und Kleinkinder massenweise erfroren und wurden am Wegrand zurückgelassen. Auch die Schwester meines Vaters, die kleine Anna, ereilte dieses Schicksal. Die Mutter hat sie im Schnee verscharrt, wie mein Vater mir mal in einem seltenen Moment der Offenheit erzählte. 70 Jahre später konnte ich immer noch das Entsetzen in seinem Gesicht sehen, seine Stimme zitterte.
Der ganze Flüchtlingstreck war ein einziger Horror: Säuglinge verhungerten, weil die Milch in den Flaschen zu Eis geworden war, oder erfroren in ihren durchnässten Windeln. Bei der Überquerung des Frischen Haffs versanken ganze Pferdewagen im Eis – die Pferde, die Wagen, die Menschen.
Manche Trecks wurden von Bomben getroffen, von nachrückenden Wehrmachtstruppen in den Straßengraben gedrängt oder von sowjetischen Panzern zermalmt. Die sind da einfach drübergefahren. Ich möchte mir nicht vorstellen, was mein Vater mit seinen nicht mal 4 Jahren alles mit ansehen musste. Das Buch stammte aus dem Bücherregal meiner Eltern. Ich hoffe, mein Vater hat das Buch nicht gelesen, das wäre wohl retraumatisierend gewesen.
Nach dem Kapitel über den Abschuss des Flüchtlingsschiffs „Wilhelm Gustloff“ durch ein sowjetisches U-Boot musste ich aufhören zu lesen. Die Geflüchteten wähnten sich nach tagelangen Fußmärschen endlich in Sicherheit, doch das Schiff wurde zur Todesfalle. Der Untergang der „Gustloff“ ist das größte Schiffsunglück aller Zeiten mit über 9.000 Toten. Auch dieses Drama spielte sich bei -20 Grad Luft- und 0 Grad Wassertemperatur ab. Wie der Untergang der Titanic, nur noch viel schlimmer. Wobei selbst Überlebende des Untergangs im Interview gesagt haben: „Wir haben ja angefangen“.
Es soll nämlich keinesfalls vergessen werden, dass die Deutschen in ihrem Vernichtungskrieg in Osteuropa ein Vielfaches an Grausamkeiten an der Zivilbevölkerung in der Ukraine, Belarus, Polen, Russland begangen haben – angefangen mit dem Überfall auf Polen.
Erwähnenswert ist auch, dass die leidvolle „große Flucht“ überhaupt nur deshalb nötig war, weil sich fanatische Nazi-Gauleiter, die bis zum Schluss an den deutschen Sieg glaubten, weigerten, die deutsche Bevölkerung rechtzeitig zu evakuieren.
Das erste Gefecht
Nachdem die Teilnahme an der Ardennenoffensive eindeutig nachgewiesen ist, versuche ich herauszufinden, wo mein Großvater in den Krieg eingetreten ist. Ich verbringe also einen Sonntag damit, Einheiten der Wehrmacht zu googlen – icke, die ich nicht mal ne Division von nem Bataillon unterscheiden kann.
Dann der Schock: Wenn ich es richtig interpretiere, war mein Großvater auch beim Polenfeldzug dabei. Was für ein Wahnsinn! Er war Teil des ersten und letzten Gefechts. Allerdings wurde er gleich am zweiten Tag schwer verwundet durch einen Schuss ins rechte Knie. Daher wohl später auch das Holzbein.
Die ganze Recherche ist eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Irgendwie hofft man, dass der eigene Vorfahr keine Menschen getötet hat. Anfangs dachte ich, er war ja Bäcker von Beruf, vielleicht war er bei einer Versorgungseinheit und hat brav Brötchen gebacken. Aber die Daten auf seiner Karteikarte sprechen eine andere Sprache: anfangs der Überfall auf Polen, nur ein paar Hundert Kilometer von seiner westpreußischen Heimat entfernt, und am Ende dann „The Battle of the Bulge“ in Luxemburg.
Dazwischen muss er Polen durchquert haben, um es mal freundlich auszudrücken. Denn nach Aussage meines Vaters war er 1941 im Lazarett in Tilsit, wo mein Vater während eines Krankenbesuchs durch seine hochschwangere Mutter geboren wurde. Überhaupt war er mehrmals im Lazarett: einmal, weil sich die alte Verletzung entzündet hatte, und einmal wegen „Nerven“. Bei jeder Verwundung atme ich auf, denn als Verwundeter konnte er wenigstens keinen Schaden anrichten.
Immer wieder ertappe ich mich dabei, den ganzen Sachverhalt aus seiner Perspektive zu sehen, denn er ist ja mein Rechercheobjekt. Und der Vater meines Vaters. Aber er war auch Unteroffizier der Wehrmacht und hat möglicherweise Kriegsverbrechen begangen. Ich muss es wohl nicht erwähnen, dass mich das Ganze sehr aufwühlt.
Es weitet auch den Blick dafür, was für ein traumatisierter Kontinent Europa eigentlich ist: ein blutgetränkter Boden, Millionen Tote, Millionen Menschen, die in alle Himmelsrichtungen vertrieben oder deportiert wurden oder geflüchtet sind, die alles verloren haben.
Ich empfehle nochmals das extrem gut gemachte Berliner Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung, das die Erinnerung aufrechterhält und den Bogen zu heutigen Flüchtlingsbewegungen spannt (Eintritt frei). Außerdem gibt es dort Recherche-Ecken mit kostenlosem Zugriff auf Ancestry, das größte Dokumentationsportal für Familienforschung.
Noch ein berühmter Vorfahr
Um mit etwas Positivem zu enden: Ich bin noch auf einen weiteren berühmten Verwandten gestoßen. Über meine Ururururgroßmutter bin ich mit Adam Johann von Krusenstern verwandt. Er war ein deutsch-baltischer Admiral der russischen Flotte. Als Kommandeur der ersten russischen Weltumseglung (1803-1806) mit dem Segelschiff „Nadeschda“ reiste er von Kronstadt über Teneriffa und Brasilien bis zum Kap Hoorn über Hawaii, Japan, das Kap der guten Hoffnung zurück nach Kronstadt. Der hatte sicher was zu erzählen – mal gucken, ob es Reiseaufzeichnungen gibt. Und Adam hat bei den russischen Seekadetten die Prügelstrafe abgeschafft. Immerhin.
PS: Ich habe die Filmlizenz des Kameramann-Großonkels bekommen und auch die U.S. Citizenship and Immigration Services haben geantwortet wegen des mysteriösen US-amerikanischen Verwandten. Aber dazu später mehr.
Titelfoto: Wikipedia, User:Bomzibar, CC BY-SA 3.0
Foto Gemälde Krusenstern: Wikipedia, gemeinfrei
Hallo Lydia,
es wird doch langsam Zeit deinen Ahnenforschung in ein Buch zu packen, dass könntest du als Skript nebenbei“ entwerfen, oder ? Ich vermute fast du denkst darüber nach.
Jedenfalls liest sich das alles spannend, auch wenn es z.T. bitter ist das alles herauszufinden…
Liebe Grüße aus Stuttgart
Steffen
Hey Steffen, keine Ahnung, was mal daraus wird. 😉 Am Anfang habe ich sogar von den Personen in meinem Stammbaum geträumt. Für ein Buch müsste ich die Lücken in der Recherche mit meiner Fantasie füllen, das wäre dann Autofiction. Wer weiß …
Respekt! So weit bin ich in Sachen Ahnenforschung noch nicht gekommen. Noch treibt mich die Sorge um, welche Informationen ich über meine beiden Großväter finden könnte, die ich lieber nicht wissen möchte. Immerhin haben wir vom Bundesarchiv zur Aufklärung von NS-Verbrechen die Auskunft erhalten, dass nichts gegen sie vorliegt. Dennoch wird es spannend, wenn wir irgendwann Einsicht in die Militärakten bekommen. Ich fürchte, einige zentrale Fragen wird auch dies nicht beantworten können – diese hätten sie uns nur selbst beantworten können. Das konnten oder wollten sie zu ihren Lebzeiten nicht. So bleiben nur die wenigen Andeutungen, die wir ihnen entlocken konnten, und die uns vermuten lassen, dass sie bis ins hohe Alter mit ihren Erinnerungen zu kämpfen hatten. Eine der wenigen Aussagen meines Großvaters hat sich tief ins Gedächtnis gebrannt: „Lasst euch nie erzählen, wir hätten von nichts gewusst! Wir haben es jeden Tag gesehen. Viele haben mitgemacht, weil sie profitiert haben. Einige waren überzeugt. Noch viel mehr haben einfach geschwiegen, weil es ihnen egal war. Und nur eine Handvoll hat sich wenigstens noch geschämt.“
Ein denkwürdiges Zitat, danke! Wenn ich aktuell Interviews mit Soldaten der Russischen Armee sehe, dann sind erschreckend viele innerlich abgestellt und erfüllen halt ihre Pflicht. Einige sind hasserfüllt und finden den Krieg gut. Aber geschossen haben will natürlich keiner! Diese kognitive Dissonanz kann man wahrscheinlich anders nicht aushalten. Ich wünsche Dir auf jeden Fall viel Erfolg bei Deiner Ahnenforschung! Wirst Du auch darüber bloggen?