Während ich mich auf der Suche nach den Spuren meiner Vorfahr*innen durch deutsche Landesarchive wühle, gelange ich auf so manche Abwege – zum Beispiel in die tiefste norddeutsche Provinz. Als ich das Bahnticket gebucht hatte, war mir nicht klar, dass die Kleinstadt Schleswig (immerhin Namensgeberin des Bundeslandes Schleswig-Holstein) am AdW liegt. Und noch was: Als Hobbyfamilienforscherin hofft man ja immer, überraschend auf irgendeinen berühmten Namen im Stammbaum zu stoßen. Und tatsächlich: Ich bin mit einem Star verwandt. (Jaaa, Clickbait – ich brauch das Geld, Leute. 😉 )
Ich war hochmotiviert: Landesarchiv Schleswig-Holstein, ick komme! Meine Online-Recherche hatte nämlich ergeben, dass einer meiner Vorfahren Pastor in Lübeck war (oder, wie sich vor Ort herausstellen sollte, sogar zwei). Eine Tatsache, die mich als mittlerweile wieder Atheistin etwas irritiert hatte. 😀 Die Suche zeigte 9 Treffer, die ältesten Archivalien waren von 1794. Es gab wohl Beschwerden wegen der Pastoren, vielleicht hatten die was ausgefressen – ich wollte es natürlich genau wissen.
Lichtblick im Nebel
Und da wir in Deutschland sind, musste ich die Dokumente vor Ort einsehen. Also, auf in die Provinz. Als der Regionalexpress in Schleswig hielt, war ich schon mal etwas verwirrt. Das soll ein Bahnhof sein? Eine Bretterbude neben dem eigentlichen, halb verfallenen Bahnhofsgebäude hieß mich willkommen. Wer mich auch willkommen hieß, war ein selbst durch meinen wasserdichten Daunenmantel kriechender feuchtkalter Nebel. Na gut, was erwartet man in Norddeutschland?! Schleswig stellte sich als recht weitläufig heraus, aber ich bin ja gut zu Fuß.
Ich stapfte also durch den Nebel und stellte fest, dass neben dem Gericht wohl das Landesarchiv das imposanteste Gebäude war. Auch innen war alles vom Feinsten. Das reiche Deutschland (drittstärkste Volkswirtschaft der Welt) hat ja für gar nix Geld und ist nur am Rumjammern, aber den Archiven geht’s super. Ich finde das richtig so, wir haben ja auch einiges an Vergangenheit aufzuarbeiten.

Akten über Akten
Eine wortkarge Archivarin reichte mir 9 fast unterarmdicke Akten und deutete auf die „Fotostation“: ein kleines weißes Fotozelt mit Handy-Halterung, wo man die Akten bequem abfotografieren konnte. Das würde auch nötig sein, denn erstens hatte ich nicht mit dieser Unmenge an Dokumenten gerechnet. Und zweitens wurde mir mit einem Blick auf das vergilbte Papier klar, dass ich vermutlich ewig brauchen würde, um die in Deutscher Kurrentschrift gehaltenen uralten Schriftstücke zu entziffern.
Ich fotografierte also alle geschätzt 300 Seiten ab. (Wer mitdenkt, fragt sich an dieser Stelle natürlich: Hey, wenn das jetzt alles schon mal digitalisiert ist, könnte man das nicht direkt für ein zukünftiges Online-Archiv …? Aber nein, wir sind doch in Deutschland.)

Während ich fotografierte, versuchte ich, wenigstens ungefähr herauszufinden, was in den Akten stand. Wenn man lange genug draufstarrt, geht’s eigentlich. Es hilft, wenn man wenigstens einigermaßen Sütterlin lesen kann. Einzelne Wörter zeichnen sich ab, einiges kann man erraten. Anderes ist einfach komplett unlesbar. Von Schönschrift bis Sauklaue war alles dabei.
Mir gefiel das Pompöse an vielen Schreiben. Ich überlegte kurz, meine Blogbeiträge in Zukunft mit einem geschwungenen „Publicandum!“ zu beginnen. Oder mir so ein cooles kalligraphisches Monogramm zuzulegen.

Ein Bewerbungsschreiben von 1801
So viel verstand ich: Die Probleme der Kirche waren damals wie heute ähnlich: Finanzierung (sinngemäß: „Wie muss das Geldopfer berechnet werden, wenn der Bauer ein Altenteil zu 1/2 oder 1/3 vermietet hat?“) und Fachkräftemangel (sinngemäß: „Herr Pastor X. kann diese Kirche nicht auch noch übernehmen, weil er schon für die und die und jene zuständig ist“). Immerhin ging eine Bewerbung auf eine freigewordene Stelle als Diakon ein:


„Hochwürdigster Bischof,
Durchlauchtigster Herzog,
Gnädigster Fürst und Herr,
Euer Hochfürstlichen Durchlaucht erlauben gnädigst, daß ich mit einem unterthänigsten Gesuche umdas erledigte Diaconat an der Stadtkirche zu Eutin an Höchstdieselben mich wende. Ich habe an der Universität zu Kiel mich dem Studium der Theologie gewidmet, zu welchem meine geprüfte überwiegende Neigung mich hinlenkte und zu welchem mein Vater mich von Kindheit auf bildete.
Die in beglaubigter Abschrift beiliegenden Zeugnisse meiner dortigen Lehrer und des Herrn Generalsuperintendenten Callisen, der mich darauf geprüft hat, lassen mich hoffen, daß es mir gelungen sey, ihre Zufriedenheit mir zu erwerben. Seitdem hielt ich mich bei dem Herrn Pastor Südtwaliker (?) als sein Gehülfe im Unterricht in der Erziehung seines Sohnes und seiner Zöglinge auf, und nach erhaltener Erlaubniß des Herrn Superintendenten Götschel habe ich öfter zu Neukirchen und auch einmal in Eutin gepredigt und mit Beyfall und zur Zufriedenheit meiner Zuhörer zu predigen das Glück gehabt.
Dieß erweckt mich zu der Erwartung, daß ich unter dem Segen der Fürsehung nicht vergeblich dahin arbeiten würde, ächte Religiosität und Tugend zu erwecken, zu erhalten, und zu vermehren, wie es mein innigster Wunsch ist. Mein Vater hat einst sieben glückliche Jahre als Kantor (?) der Schule zu Eutin erlebt, und mir für diese Stadt von Jugend auf Liebe eingeflößt; ich selbst bin in Eutin geboren, und im Kreise meiner dortigen Verwandten oft ein Zeuge des Glücks gewesen, dessen sich Eutins Bewohner unter Euer Hochfürstlichen Durchlaucht wohltätiger Regierung erfreuen. [Schleimer! 😀 ]
Wie könnte ich den Wunsch unterdrücken, an diesem für mich so erwünschtem Orte, in einer so wünschenswerthen Verbindung, als Prediger zu leben und Gutes zu wirken, so viel ich immer kann, wenn Höchstdieselben gnädigst zu diesem Amte mich zu bestellen geruhen wollten! Stets würde ich mich bestreben, Höchstdero Huld und Gnade durch Treue und Eifer in allen meinen Pflichten mich würdig zu beweisen.
In tiefster Demut ersterbe ich [Whaaaaat?!]
Euer Hochfürstlichen Durchlaucht unterthänigster
Carl Theodor Eckermann
[keine Ahnung, wer das ist, ein Advokat aus Glücksburg auf der Suche nach einem Nebenjob?, aber Kompliment für die saubere Handschrift]
Eutin, den 7ten Juni 1801″
Nur, damit Ihr mal seht, womit ich mich rumschlagen muss. 😀 Und wie gesagt: Das ist noch eine prima lesbare Handschrift. Frauen tauchen übrigens in diesen Akten so gut nie auf – und wenn, dann um den Tod ihres Ehegatten zu vermelden und um Unterstützung zu bitten, die das Überleben der Familie sichert.
Überleben an der Förde
Apropos Überleben: Ich hatte noch Zeit, bis mein Zug kommen sollte, und stapfte zwei Stunden durch die Kälte. Die Stadt wirkte etwas heruntergekommen, aber vielleicht lag das auch am unwirtlichen Wetter. Ich kam mir vor wie in einem ARD-Fernsehkrimi: „Mord an der Förde“ oder so. Hinzu kam der Hunger. In ganz Schleswig habe ich kein offenes Restaurant gefunden (gut, es war Montag, aber trotzdem?!) und musste mit einer Käsestange von der Tanke vorliebnehmen.

Am „Bahnhof“ umklammerte ich einen Pappbecher mit heißem Tee und starrte sehnsüchtig auf die im Nebel versunkenen Gleise – in der vergeblichen Hoffnung, dass der Regionalexpress sich etwas früher materialisieren möge. Ich hatte das Gefühl, dringend hier wegzumüssen, zurück in die Zivilisation. Sorry, Schleswig!
Bisher habe ich nur sporadisch in die Dokumente geschaut und weiß daher noch gar nicht, welche Schätze sich da verbergen. Im Zug kam mir der Gedanke, dass es doch bestimmt eine KI gibt, die alte Schriften entziffern kann– und siehe da, es gibt sie! Transkribus ist nicht perfekt, aber schon ziemlich gut. Man erfährt zumindest, worum es in einem Dokument geht.
Eins ist jetzt schon klar: Es stehen noch mehr norddeutsche Kleinstädte auf meinem Programm. Ich will die Kirchen abklappern, in denen meine Vorfahren gewirkt haben. Vielleicht hängt ja irgendwo sogar ein Porträt vom ollen Pastor. Dann aber im Sommer. Und mit Proviant im Gepäck. Wünscht mir Glück! 😉
PS: Und wer bis hierhin durchgehalten hat, soll belohnt werden: Vor Kurzem erhielt ich einen Treffer aus einem anderen Stammbaum. Herbert Arthur Wiglev Clamor Grönemeyer ist mein Cousin 5. Grades! Die Schwester meines Urgroßvaters ist seine Ururgroßmutter. Der Schnittpunkt unserer Familien ist Pärnu in Estland – unsere Vorfahr*innen waren Baltendeutsche. Immer, wenn ich ihn jetzt im Radio höre, kann ich einen gewissen Stolz nicht verhehlen: „Sie spielen wieder meinen Cousin!“ 😀
Bleibt dran, wenn ich nächstes Mal enthülle, wovon der einzig erhaltene Film meines Nazi-Kameramann-Großonkels mit dem vielversprechenden Titel „Natur und Liebe“ handelt – und wie ich auf jüdische Verwandte stieß.
Fotos: Lydia Krüger
Ich Liebe diese Posts!
Und ich finde es so interessant wie kulturell verwoben ein Stammbaum doch sein kann! Ich feiere diese deutsche Dokumentationssorgfalt.
…bin gespannt in welche Käffer an der Fjorde du noch so kommst. Liebe Grüße aus Stuttgart
Steffen