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Die Kunst der Konversation

Neulich sah ich mal wieder eine meiner Lieblingssendungen im russischen Fernsehen: „Лучше всех“. Dabei geht es um Kinder, die etwas „besser als alle anderen“ können (so lautet auch der Titel). Und das ist keine Übertreibung: eine sechsjährige Karate-Weltmeisterin, eine zehnjährige Seilartistin, ein dreijähriges Mathegenie – Russen halt. 😉 Ich hab die Sendung schon öfters gesehen und bin immer wieder geflasht, was die Kleinen draufhaben.

Das führt dann auch ganz schnell zu Selbstzweifeln: Oh Gott, der 3-Jährige kann vierstellige Quadratprodukte (heißt das so?) berechnen und ich nicht! 😀 Die Kinder sind auch alle so positiv leistungsbereit. Deutsche Kids haben Angst, Fehler zu machen. Russische Kids machen keine Fehler. Die liefern ab und freuen sich drüber. Das haut mich immer wieder um. Aber darum soll es hier nicht gehen. Sondern um diese bemerkenswerte Szene.

Während der kleine Rechenkünstler Sawwa (3) mit dem Moderator auf der Couch saß, entspann sich ungefähr folgendes Gespräch:

Moderator: (deutet ins Publikum) – Ist das deine Schwester, die da weint?
Sawwa: – Ja.
– Wie heißt sie denn?
– Alla.
– Alla, ein sehr schöner Name! (Gelächter im Saal, der Moderator ist mit dem Megastar Alla Pugatschowa verheiratet.) Und wie heißen deine Eltern?
– Mama und Papa.
(Der Moderator freut sich.) – Meine heißen genauso!!
– Und woher kommst du?
– Von zuhause.
– Logisch! Wir haben so viel gemeinsam: Meine Eltern heißen auch Mama und Papa, ich wohne zuhause und eine Alla hab ich auch.

Das war nicht nur ziemlich witzig – der Moderator ist AUF DAS KIND EINGEGANGEN! Sowas habe ich wirklich lange nicht gesehen. Kann auch daran liegen, dass ich momentan wenig mit Kindern zu tun habe. Aber aus meiner eigenen Kindheit kenne ich es eher so, dass dann korrigiert oder so lange nachgefragt wird, bis die erwünschte Antwort kommt.

Im deutschen Fernsehen kann ich Shows mit Kindern nicht gucken, weil ich mich immer so fremdschäme für die Moderatoren. Jetzt weiß ich auch warum. Es ist dieses Abfragen erwünschter Antworten. Die Moderatoren bringt das völlig aus dem Konzept, wenn die Kinder spontan mit irgendwas Überraschendem um die Ecke kommen. Oder die Erwachsenen biedern sich an, machen sich selbst klein. Oder sie beschämen die Kinder, das find ich noch schlimmer.

Kinder sind ja sowieso schon der fleischgewordene Kontrollverlust – erst recht in einer Fernsehsendung. Bangt und hofft man da als Erwachsener, dass die sich schon benehmen werden? Oder lässt man es einfach auf sich zukommen?

Im Grunde ist ja jede Unterhaltung eine potenzielle Eskalation – besonders in Berlin, haha. Nur sind die meisten Erwachsenen so trainiert, dass sie es nicht dazu kommen lassen. Jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. 😀 Ältere Kinder sind auch schon ziemlich angepasst, aber die ganz Kleinen lassen es einfach raus.

Mir wurde klar, dass ich gerade der hohen Kunst der Konversation beigewohnt hatte. Mit einem 3-Jährigen. Und dass ich wahrscheinlich, weil selbst so aufgewachsen, in dieser Situation wohl eher den deutschen Erklärbär gegeben hätte: „Nein, Mama ist doch nicht ihr richtiger Name, guck mal, du hast ja auch einen Namen, blabla…“

Aber so war es doch viel lustiger! Und eleganter, spontaner – und natürlich auch kindgerechter. Der Moderator hat sich auf das Kiddo eingelassen, aber ohne selbst albern und kindisch zu wirken. Er hat mitgespielt.

Warum erzähle ich Euch das? Vielleicht, weil wir alle im Alltag so voller Konzepte sind darüber, wie die Dinge zu laufen haben. Vielleicht habe ich deshalb auch zweimal Kommunikation studiert und hänge jetzt noch mal Psychologie dran. Vielleicht schreibe ich deshalb auch lieber. Kontrollverlust durch Konversation – wer will das schon? 😉

PS: Der kleine Sawwa wusste übrigens, wie seine Eltern heißen. Er wollte nur mit dem Moderator spielen.

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Photo by Denisse Leon on Unsplash

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4 Kommentare

  1. Jaaa, Spielen ist ganz wunderbar 🙂
    kooperativ spielen
    Wettspiele sind nämlich keine Spiele!
    Danke.

  2. Ardalan

    „Kontrollverlust durch Konversation“ – Sehr schön! 🙂

    Erinnert mich an die Sache mit dem Improtheater, die den Alltag auch unglaublich verschönern kann. Da sind die eigenen Vorhaben und Filme ja auch immer irgendwie im Weg, wenn man auf ne Weise miteinander umgehen will, die allen Beteiligten Spaß macht…

    –> https://provokativ.com/mut-zur-improvisation/

    Danke für die schöne Erinnerung! :))

    • Lydia

      Danke, das hatte ich auch im Hinterkopf, hab‘s aber nicht aufgeschrieben. Mit Impro kann man schön sehen, wie die eigenen Konzepte zum Fenster hinaussegeln. Kinder sind ein bisschen wie Inpro. ?

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