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Radikal anders: Die Agentur Wigwam

„Willkommen im Wigwam“, sagt Matthias Riegel – der Chef, der nicht mehr Chef sein wollte. „Schön, dass du da bist.“ Ich bin in einer Fabriketage im Wedding – typisch Werbeagentur eben. Typisch Agentur? Mein Blick fällt auf ein Hochbett in einer Ecke des Großraumbüros. „Och, wie schön, hier kann man auch mal chillen“, denke ich.

Matthias hat mich eingeladen, einen ganzen Tag im Wigwam dabei zu sein. Wir hatten uns auf dem AugenhöheCamp in Berlin kennengelernt, wo er über die Wandlung der Agentur von einer GmbH in eine Genossenschaft berichtete.

Heute ist ein besonderer Tag: der monatliche Rundlauf, das Meeting für alle. Ich werde in den Konfi gebeten, wo 16 Leute (die Hälfte Frauen – ja, ich achte auf sowas) im Kreis auf dem Boden sitzen. Also, auf Kissen. In Socken. Ich habe schon viel Zeit auf Kissen verbracht. In Meditationsretreats – aber noch nie in einem Meeting. Von diesem Moment an ist mir klar: Hier läuft der Hase anders.

Es klingt banal, aber auf dem Boden zu sitzen verändert alles. Wir haben Bodenhaftung, wir haben einander im Blick. Wer will, fläzt ein bisschen oder macht sich mal lang. In unserer Mitte brennt das erste Adventslicht. Ich fühl mich sofort wohl, obwohl ich von Fremden umgeben bin. Und das will echt was heißen.

Ich stelle mich vor, erzähle über Büronymus und dass ich auch selber als Texterin für Werbeagenturen arbeite, mich aber oft die schiere Sinnlosigkeit der Aufgabe (dem Kunden zu helfen, ein bisschen mehr von irgendwas zu verkaufen) ziemlich deprimiert. Immer wieder geht mir dann der Gedanke durch den Kopf: Wenn all diese talentierten kreativen Menschen ihre Fähigkeiten, ihre Energie und Liebe für etwas einsetzen würden, das die Gesellschaft voranbringt – wie unfassbar genial wäre das?!

Bei Wigwam ist das so, denn die Agentur macht „Kommunikation für alles Gute“. Sie begleitet soziale Projekte, NGOs und nachhaltige Unternehmen „beim Aufbruch in eine gerechtere, ökologische Gesellschaft“, wie es auf der Website heißt.

Ganz so einfach sei es nicht, gesteht Matthias später. „Wir sind die größten Kritiker des eigenen Systems. Manche NGOs sind selbst Konzerne. Sie sind null nachhaltig, wollen gar nicht, dass die großen Probleme gelöst werden, denn dann würden sie sich selbst abschaffen. Aber dennoch: Wir wägen gemeinsam ab, wofür es sich lohnt, sich einzusetzen. Es gibt Projekte, da spüren wir einen ganz starken Drang, etwas zu verändern, z. B. wenn es um Kinderhandel geht. Eine Anfrage zu einem Projekt für traumatisierte Soldaten haben wir ausführlich diskutiert und auch beim potenziellen Kunden ehrlich nachgefragt. Wir wollten das verstehen. Am Ende haben wir abgesagt.“

Zurück im Konfi: Es wird aus den sechs Blüten (Personal, Teamentwicklung, Kommunikation, Kunden, Finanzen, Wigwam Organisationsteam) berichtet. Fast alle kommen zu Wort, aber niemand schwadroniert herum oder profiliert sich, auch wenn am Ende nur noch die Männer diskutieren. Es geht um Themen wie das Wunschgehalt (<- genauer erklärt im Wigwam-Blog), Fortbildung ohne Budgetgrenzen oder die Vermietung des Wettbureaus, des hauseigenen Veranstaltungsraums. Alles ist transparent, auch die Zahlen.

„Jemand von einer großen internationalen NGO wird für drei Monate zu uns kommen. Er macht ein Sabbatical“, erzählt Katja. Lachen. Später korrigiert sie sich: „Ach nein, er kommt sogar für sechs Monate zu uns. Damit er mal richtig runterkommt.“ Schallendes Gelächter. Überhaupt wird viel gelacht – und auch mal applaudiert, wenn etwas gut gelaufen ist oder jemand sich für eine Aufgabe gemeldet hat.

Kommunikationsprofis – im wahrsten Sinne des Wortes

Mir scheint, als würde ich Meister der Kommunikation beobachten. Es geht wirklich darum, einander zu verstehen. Zum ersten Mal erlebe ich gewaltfreie Kommunikation auf eine natürliche Weise, nicht aufgesetzt oder weichgespült. Es fallen Sätze wie: „Mein Empfinden ist da ein bisschen anders.“ „Ich habe das Gefühl, dass…“ „Ich empfinde es als Problem, wie wir damit umgehen.“ „Was braucht es von uns, damit Ihr…?“ Oder auch: „Das ist für mich schwierig, das in der Gruppe zu sagen.“ – „OK, Einzelgespräch“, lautet die freundliche Antwort.

Wer zustimmt, wedelt mit beiden Händen. Wer etwas sagen will, zeigt auf. Und wenn mehrere etwas sagen wollen, zeigen sie die Reihenfolge mit den Fingern an: Ich bin die erste, der zweite, die dritte. Wie genial ist das bitte?! Warum lernt man das nicht in der Schule? Das nimmt so viel Druck aus einer Diskussion. Und jeder kann sicher sein, gehört zu werden.

Apropos sicher: Das, was in vielen Unternehmen fehlt, ist im Wigwam vorhanden: psychologische Sicherheit. Also die Gewissheit, in einer Gruppe sprechen zu können, ohne beschämt, zurückgewiesen oder bestraft zu werden. Es geht um eine Atmosphäre von Vertrauen und Respekt, in der jede Person sie selbst sein kann. Wie Google in seinem Aristotle-Projekt festgestellt hat, sind genau dies die Faktoren, die Teams erfolgreich machen.

Und erfolgreich ist Wigwam. „Wir standen finanziell noch nie so gut da wie seit der Umwandlung in eine Genossenschaft“, erzählt Matthias. „Wir sind wirtschaftlich extrem effizient. Wir arbeiten mit einer Projektmanagement-Software, tracken unsere Arbeit und tauschen uns in Slack-Gruppen aus. Und dann gibt es noch die Wigwam-Effizienz, die hat total viel mit Sinnhaftigkeit und dem In-Frage-Stellen der wirtschaftlichen Effizienz zu tun. Wir machen dreimal im Jahr einen Teamausflug. Das heißt, wir haben dreimal im Jahr vier Tage, an denen alle 21 Leute keinen Tagessatz reinholen. Wirtschaftlich betrachtet ist das unfassbar ineffizient. Aber es ist essenziell für unsere Kultur, für das Vertrauen und unsere gemeinsamen Werte.“

Gemeinsamkeit erwünscht

„Tägliche, wöchentliche, monatliche Meetings – und dann noch die Teamausflüge. Geht Ihr einander nicht irgendwann total auf den Sender?“, frage ich Gitanjali „Gitu“ Wolf, im Vorstand für Teamentwicklung und Kommunikation zuständig. „Ich hab’s gar nicht über,“ sagt sie. „Vier Tage zusammen eingesperrt irgendwo in Brandenburg, das geht krass in die Tiefe, das ist total toll und hat eine kathartische Wirkung. Danach sind wir jedes Mal neu aufeinander eingestimmt.“

Wir beide sitzen in der Küche und quatschen, während die anderen vor ihren Rechnern sitzen. Ganz normaler Agenturalltag eben – nur etwas ruhiger. Und wer will, arbeitet in eine Fleecedecke eingemummelt vom Sofa aus. (Da geht mein Couchpotato-Herz auf. 🙂 )

Mein Blick fällt auf einen Babystuhl. Es ist das erste Mal (und ich habe sehr viele Unternehmen von innen gesehen), dass ich in einer Küche einen Babystuhl sehe. Der Babystuhl ist der neue Kickertisch, kommt mir in den Sinn. Nein, ein Babystuhl ist so viel mehr als ein Kickertisch, denn er sagt etwas aus: Hier sind Babys normal. Auch beim Meeting war ein Baby dabei. Warum nicht?

New Work – aber nicht als Selbstzweck

Gitu, die als Organisationsentwicklerin auch andere Unternehmen begleitet und Veranstaltungsreihen wie „Eine Arbeitswelt, wie sie uns gefällt“ organisiert, erzählt mir, dass Wigwam sich für den New Work Award beworben hat. Und wie schwierig es war, die Kultur der Genossenschaft in die Schablone des Awards einzupassen. Mir ist sofort klar, warum.

Wigwam ist radikal anders. Hier geht es nicht darum, mal jemandem Homeoffice zu genehmigen – hier gibt es 21 Lebensentwürfe und 21 Arbeitszeitmodelle. Hier entscheidet jede selbst, an welchen Projekten sie arbeitet. Hier wird nicht über eine Frauenquote diskutiert, hier gibt es eine. Hier wird nicht einmal im Jahr mit großem Tamtam ein „Mitarbeiterbeteiligungsprojekt“ gestartet (Kickoff – Arbeitsgruppe – schleichender Tod), sondern Selbstorganisation und Mitbestimmung sind Teil der DNA des Wigwams. Woanders wird an Führung herumgedoktert, hier gibt es keine Chefs, die sagen, was gemacht wird.

Hier wird nicht mal eben „Augenhöhe implementiert“, sondern hier ist Augenhöhe Alltag.
Was für ein Unterschied zu Unternehmen und vor allem Chefs, die so tun, als hätten sie New Work erfunden, und sich dafür feiern lassen. Gitu sieht das ähnlich: „Viele Ideen stammen aus den 60ern und 70er Jahren. Es gibt Kollektivbetriebe, die das seit Jahrzehnten leben. Die sind durchaus politisch, genau wie die Themen und Speaker auf unseren Veranstaltungen. Das ist nicht diese Wohlfühl-New-Work-Bubble, sondern wir zielen auf einen gesellschaftlichen Wandel hin.“

Haltung erlaubt bei Wigwam
Haltung erlaubt

Ja, Mann, gesellschaftlicher Wandel! Perfekt ist das alles hier. Auf einmal fühle ich mich irgendwie lumpig. Fahre immer noch fette Karre statt Elektroauto. Trage ich eigentlich gerade Lederschuhe? Ist mein Pulli Fair Trade? Hätte ich Bio-Lebkuchen statt „Gut & Günstig“ mitbringen sollen? Kommuniziere ich eigentlich gewaltfrei? Berliner Schnauze und so… Ich verscheuche die Gedanken. Ich bin hier, um voll Büronymus-mäßig hinter die Fassade zu schauen und alles zu hinterfragen. Aber hier gibt es keine Fassade. Und ich bin gerade mal wieder dabei, mich selbst zu hinterfragen.

Es muss doch was geben, wo ich reinbohren kann? Ha! Diversität! „Also, mir ist aufgefallen, Ihr seid nicht besonders international hier…“, konfrontiere ich Matthias und Gitu. Ja, dessen sei man sich bewusst, das sei ein Schmerzpunkt, an dem gearbeitet werden müsse, geben beide zähneknirschend zu. „Das kommt daher, dass wir neue Stellen vor allem über Initiativbewerbungen besetzen. Aber die kommen bisher halt leider von weißen, deutschen Akademikern. Wir haben nämlich noch nie eine Stelle ausschreiben müssen.“
Und das ist schon wieder geil. 🙂


Die Wigwam-Prinzipien

Rotation: Alle Mitarbeiter*innen wählen die sechs Vorstände und vier Aufsichtsräte in demokratischen Wahlen alle zwei Jahre neu.
Offenheit: Vorstands- und Aufsichtsratssitzungen sind offen: Alle Mitarbeiter*innen können immer an den Treffen der “Organe” teilnehmen.
Gleichberechtigung: Der Frauenanteil in Vorstand und Aufsichtsrat liegt, wie auch im ganzen Team, bei 50%.
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Geteilte Verantwortung: Alle Mitarbeiter*innen – ob im Vorstand oder nicht – haften mit dem gleichen Betrag. Das heißt: Entlastung des Einzelnen zur Entfaltung von allen.
Selbstorganisation: Wir organisieren uns in unseren sechs Kernbereichen Personal, Team-Entwicklung, Akquise, Marketing, Finanzen und Büro-Organisation in holokratischen, offenen und autonomen Kreisen, in denen sich jede*r von Office-Managerin bis Designer engagiert und in denen jeweils Vorstands-Tandems die verbindenden Personen sind.


Die Wigwam-Arbeitszeitmodelle: 21 Lebensentwürfe unter einem Dach

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Quelle: Wigwam

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Titelfoto: Postkarte Wigwam, Fotos: Lydia Krüger

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6 Kommentare

  1. Nadja

    Wo viel Licht, da auch Schatten.
    Es muss einen Haken geben im GlücksbärchieBüro….
    Wo ist er?

    • Schwester im Geiste. ? Also, wenn ICH ihn nicht gefunden habe… Es gibt sicher Haken. Aber das Schöne ist, dass niemand Angst hat, sie anzusprechen und anzupacken. Das war zumindest mein Eindruck.

  2. Danke.
    Spannende info für Carlotta und mich
    aus einer ganz anderen Lebenswelt.
    Besonders den Babystuhl finde ich kolossal wunderbar :)))
    Komm gut nach 2018 und LG,
    Hiltrud

  3. Wow, schön zu lesen, dass es sowas wirklich gibt. Und schön fand ich den Vergleich mit dem klassischen Einbinden – vom Kickoff bis zum schleichenden Tod, hihi.
    Nach dem Haken hab ich allerdings auch gesucht und mich gefragt, ob sie nebenbei noch x% lukrative, böse Aufträge annehmen.
    Ein frohes Neues Jahr wünscht
    Dagmar.

    • Nein, tun sie nicht. ? Dir auch ein frohes Neues.

  4. Sehr interessanter Artikel und mal eine neue Form von Agentur. Spannend zu lesen. Freue mich auf mehr.
    Liebe Grüße

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