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Das Gruppending

Nach der Bundestagswahl hatte ich überlegt, einer Partei beizutreten. Ich wollte politisch aktiv werden, als Gegengewicht zu den Menschenfeinden, die jetzt als „Alternative für Deutschland“ im Parlament sitzen. Ich fühle mich bedroht durch diese Leute.

Nun muss ich dazusagen, dass ich eine durchpolitisierte Kindheit und Jugend hatte. Danach hatte ich mir eigentlich geschworen, nie wieder etwas mit Politik haben zu wollen. Aber einfach zusehen, wie Nazis ans Ruder kommen? Dilemma, Dilemma.
Parteien sind mir nicht sympathisch.

Jedesmal, wenn ich Parteimitglieder nach einem Wahlsieg überglücklich jubeln sehe (oder überhaupt irgendeinem Politiker, einer Politikerin zujubeln wie einem Popstar), macht sich ein Unbehagen bei mir breit. Als Teenie hätte ich es peinlich gefunden, für einen Popstar so auszurasten. Fehlt mir ein Gen, das Gruppengen?

Das Merkwürdige ist, dass ich ja in Gruppen – damals hießen sie Kollektive – sozialisiert wurde. Kindergarten, Schule, Pioniernachmittage, Arbeitsgemeinschaften. Als DDR-Kind war man eigentlich fast nie allein. Ich mochte das und bin da offensichtlich so gut klar gekommen, dass ich sogar Führungsrollen übernommen habe.

Marktplatz der Religionen

Dabei sehe ich mir Gruppen sehr gern an – von außen. Sie faszinieren mich, besonders geschlossene Gruppen und Sekten. Ich sage nur Nordkorea. Als ich jung war, war ich sogar mal Sektenbeauftragte bei den Freidenkern. Damals nach der Wende konnte man nicht über den Alex laufen, ohne von Hare Krishnas, Zeugen Jehovas, Scientologen, Moonies oder Kinder Gottes angesprochen zu werden. Es erinnerte mich an den Marktplatz der Religionen aus „Das Leben des Brian“. Wir Freidenker wollten damals aufklären und warnen. So kam ich schon damals dazu, mich mit Sekten zu beschäftigen.

Es gibt definierte Sektenmerkmale, die eigentlich sehr hilfreich sind, um allen möglichen Gruppen auf den Zahn zu fühlen:

  1. Es gibt eine Führungspersönlichkeit, deren Aussagen nicht hinterfragt werden dürfen und die intensiv verehrt wird.
  2. Viele Bereiche des Lebens sind reguliert.
  3. Das Verhalten der Mitglieder wird (institutionalisiert oder informell) überwacht.
  4. Es gibt ein Elitebewusstsein der Organisation.
  5. Die Welt wird nach Innen und Außen gespalten. Die Außenwelt wird abgewertet, genau wie das bisherige Leben.
  6. (Liebes-)Beziehungen zu Außenstehenden sind verboten.
  7. Die Sekte beansprucht sehr viel Zeit der Mitglieder.
  8. Die Sekte greift auf die finanziellen Ressourcen der Mitglieder zu.

Nach diesen Kriterien sind sowohl Nordkorea als auch die DDR ziemlich sektenähnlich. Das erklärt wohl auch meine Faszination. Ohne je in einer Sekte gewesen zu sein (und immer bestrebt, einen größtmöglichen Abstand zu halten), kann ich doch ganz gut nachvollziehen, was dort geschieht.

Sekten (und enge Gruppen allgemein) haben ja auch viel zu bieten, wonach wir Menschen uns sehnen: Zusammengehörigkeitsgefühl, Geborgenheit, gegenseitige Unterstützung, „Sinn“, ein gemeinsames Ziel, stabile Beziehungen, Struktur und Regeln in einer unübersichtlichen Welt. Ob dieses Versprechen auch eingelöst wird, ist eine andere Frage.

Eine Freundin, wie ich atheistisch, ja antikirchlich aufgewachsen, ließ sich vor einigen Jahren taufen. Auf meine Frage nach dem Warum antwortete sie mit schmerzhafter Ehrlichkeit: „Ich will auch mal irgendwo dazugehören.“ Ein paar Jahre später wollte ich wissen, ob es für sie funktioniert hat. Sie murmelte irgendwas von „Heuchlern“ und „mit der Sache abgeschlossen“.

Gruppenfieber

In der Gruppe lernen wir, uns unterzuordnen, oder wie es in der DDR hieß: sich einzuordnen. Das klingt nicht ganz so autoritär, meint aber dasselbe: alle in Reih und Glied. Das kann sogar Spaß machen. Man fühlt sich gut, ohne irgendwas geleistet zu haben. Nur, weil man zum richtigen Zeitpunkt zwischen dem korrekten Vorder- und Hintermann steht. Bravo. Man hat das Gefühl, das Richtige zu tun – einfach, weil alle anderen es auch tun. Weil man sich an eine Regel gehalten hat. Man verleiht sich selbst ein Bienchen.

Gruppen sind immer mehr als die Summe ihrer Teile. Deshalb sind sie ja auch praktisch, wenn man etwas bewirken will. Sie bieten jede Menge Ressourcen und können ordentlich was wegschaffen. Sie sind aber auch energetisch mehr als die Summe ihrer Mitglieder. Da potenziert sich was, da braut sich was zusammen. Eindeutig fühlt man diesen Energieschub, wenn auch noch Tonschwingungen dazu kommen. Im besten Fall ein Chor, im schlechtesten grölende Fußballfans oder Nazis.

Gruppen sind schwer zu kontrollieren. Gustave LeBon schilderte in seinem Klassiker „Psychologie der Massen“, was passiert, wenn ein Mensch Teil einer Masse wird: Der gesunde Menschenverstand setzt aus, man wird hochemotional und leicht manipulierbar. Die Wahrscheinlichkeit, dass man in der Masse etwas tut, was man allein nicht tun würde, nimmt zu. Es ist sehr schwer, sich dagegenzustemmen.

Es gibt sogar eine Art Fieberthermometer der Sektenhaftigkeit von Organisationen. Ich finde, das trifft es ganz gut. Je extremer es wird, desto fiebriger wird es. Wenn ich auf einer Demo in die Nähe der Antifa gerate, spüre ich dieses Fieber. Die Grenze zwischen Leidenschaft und Fanatismus ist fließend.

Ein weiterer Punkt, der mir sehr suspekt ist: Autorität und Hierarchie in Gruppen. Beides führt zu einem Ungleichgewicht von Macht. Eine Person ist mächtig, andere sind es nicht. Das öffnet Missbrauch Tür und Tor. Konzentriert sich Macht in einer Person oder einem elitären Kreis, kann das Korruption oder psychischen, körperlichen, sexuellen Missbrauch nach sich ziehen. Keine einzige Religion, keine einzige autoritäre Organisation und erst recht keine HORG ist frei davon.

Abgesehen davon sind gerade homogene Gruppen anfällig für ein weltfremdes Gruppendenken – die Basis für schlechte Entscheidungen.

Einzelkämpfer vor

Trotz allem, was gegen Gruppen spricht, gelten sie in unser Gesellschaft als das Nonplusultra. Nur in der Gruppe kann man was bewegen. Das glaube ich nicht. Rosa Parks war alleine, als sie sich im Bus weigerte, ihren Platz für einen Weißen freizumachen. In Zeiten des Internets kann schon eine Einzelperson eine Riesenwelle auslösen – siehe Edward Snowden.

Nachdem ich mich beruflich vom Gruppenzwang befreit habe, indem ich mich selbstständig gemacht habe, habe ich auch auf anderen Gebieten immer weniger Lust auf dieses Gruppending. Ja, ich spüre die Anziehung, das Heilsversprechen, den Geruch von Macht und Hitze. Aber ich hege immer mehr Abneigung gegen die Gleichschaltung, ohne die eine Gruppe nicht funktionieren kann.

Den letzten Schubs gab mir eine Aussage der Schriftstellerin Deborah Feldman. Ich hatte gerade ihren Bestseller „Unorthodox“* gelesen. Darin beschreibt sie, wie sie sich aus der ultraorthodoxen jüdischen Sekte befreit hat, in der sie aufgewachsen ist. In einem Interview  auf Youtube formulierte sie:

My experiences have influenced the way I see all groups. So I am very hesitant to be a part of any situation that involves a group, because I am skeptical of group thinking and group identities. So this is the reason I am not a member of any kind of club, any kind of community, religious or non-religious. Because I feel that when people spend too much time in groups or identify more with a group than with themselves things can get a bit dangerous.

Meine Erfahrungen haben meinen Blick auf Gruppen allgemein beeinflusst. Ich zögere sehr, in irgendeine Gruppensituation zu geraten, weil ich skeptisch bin, was Gruppendenken und Gruppenidentität betrifft. Aus diesem Grund bin ich kein Mitglied in irgendeinem Club, irgendeiner Gemeinschaft, ob religiös oder nicht religiös. Weil ich glaube: Wenn Menschen zuviel Zeit in Gruppen verbringen oder sich mehr mit einer Gruppe als mit sich selbst identifizieren, kann es gefährlich werden.

Besser hätte ich es auch nicht sagen können.

Eben habe ich den Mitgliedsantrag für die Partei meines Vertrauens dem Papierkorb anheimgeben. Gruppe ist einfach nicht mein Ding. Ich werde trotzdem mein Bestes tun, um die Welt zu retten. So wie immer. 😉

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Photo by Nicholas Green on Unsplash

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11 Kommentare

  1. Sehr schöner Post. Ich kann dieses Unwohlsein in Bezug auf Gruppen gut nachvollziehen.
    Ich habe im politischen Umfeld oft erlebt wie irritiert, ja verängstigt, manche tapfere Parteisoldaten reagieren wenn sie auf Individualisten treffen, selbst in meiner Partei, welche sich das Wohl des Einzelnen auf die Fahne geschrieben hat.
    Für mich persönlich liegt die Herausforderung an der entgegen gesetzten Grenze: Wo ist der Punkt an dem man zum Eigenbrötler wird?
    Wir Menschen sind Individuuen, aber auch soziale Wesen. Individualismus und Kooperation gehören zu wirklicher Menschlichkeit. (Meine bescheidene Meinung.)
    Vielleicht geht es so: Bindungen aufgrund gemeinsamer Werte, Engagement für konkrete Projekte.

    • Es gibt ja auch noch kleinere Einheiten als Gruppen. 😉

  2. Carlo

    Wenn man es wirklich ganz genau nimmt, ist keine Partei menschenfreundlich. Sie deuten auf gesellschaftliche Kommunikationsstörungen hin. Eine menschenfreundliche Gemeinschaft braucht auch keine Parteien. Eine für alle würde reichen. In meinen Augen braucht sie helle Köpfe, kluge Führung und Organisation, realisiert über Demarchie und Heterarchie.
    Politik verliert nach und nach ihren Sinn, wenn sich eine Gesellschaft dem Ziel verschreibt, das menschenwürdige Leben ihrer Mitglieder zu organisieren und allen die höchstmögliche Lebensqualität zu gewährleisten. Ich bin, wie Chris Pyak, der Meinung, dass kooperativer Individualismus ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste, Schlüssel für Menschlichkeit ist.
    Diese Ansicht hat sich bei mir in den letzten 15 Jahren entwickelt. Nach »Sozialisation« in der DDR und anschließender »Entwöhnung« in der BRD wurde mir klar, dass beide Systeme keine humanistischen Lösungen bieten. Es gab dann einige Schlüsselerlebnisse (9/11, eine neue Beziehung, mein erstes Haustier, Banken- und Finanzkrise, Entdeckung von Spiritualität und Religion (Quäker) – angereichert mit umfangreichen Lernen im Bereich Geschichte der Gesellschaft und der Wirtschaft), die mein Denken maßgeblich veränderten. Parteien finden dort keinen Platz mehr.

  3. Fruuf

    Wenn Sie die demokratische Partei AfD als „Nazis“ bezeichnen, dann braucht man Ihren Text gar nicht erst weiter zu lesen. Sie zeigen damit schon an Ihrem undifferenzierten Sprachgebrauch, der offensichtlich als Keule gegen das was Ihnen als demokratisches Ergebnis der Wahl nicht passt, dass Sie keine Absicht einer sachlichen Darstellung haben.
    Ihresgleichen sehe ich als weitaus größere Bedrohung für unsere Demokratie als die Wahl einer demokratisch zugelassenen Partei, der immerhin jeder 8 Wähler seine Stimme gab.

    • OK, also hier eine ernstgemeinte Antwort auf jeden Ihrer Vorwürfe:
      1. Wenn es spricht wie ein Nazi (https://www.welt.de/politik/deutschland/article147947649/AfD-pflegt-die-Sprache-von-Nazis.html) und/oder handelt wie ein Nazi, dann ist es ein Nazi. Auch, wenn es daher kommt wie der nette bürgerliche Nachbar oder eine demokratische Partei. Auch die NSDAP wurde mal demokratisch gewählt, von der NPD mal ganz zu schweigen. Deshalb sind sie trotzdem Nazis. Die Vorstellung, Nazis erkenne man an der Uniform, der Glatze oder dem Schnauzbart, ist falsch. Man erkennt sie daran, dass sie nach einer „schönen neuen Welt“ streben, in der Frauen und Minderheiten keine Rechte mehr haben. Die ZEIT beschreibt es als „Reinigungsfantasie aus den Zeiten der Weimarer Republik“. Sehr schön auf den Punkt gebracht in diesem Gedicht von Michael Rosen (Übersetzung von mir):
      Ich fürchte manchmal
      Die Leute denken, dass der Faschismus in Uniform kommt
      getragen von Fratzen und Monstern
      wie man es aus den endlosen Wiederholungen der Nazi-Dokus kennt.
      Faschismus kommt als dein Freund.
      Er wird deine Ehre wiederherstellen,
      dich stolz machen,
      dein Haus schützen,
      dir einen Job geben,
      dein Viertel säubern,
      dich daran erinnern, wie großartig du warst,
      Bestechlichkeit und Korruption ausmerzen,
      alles entfernen, das nicht so ist wie du…
      Er kommt nicht herein und sagt:
      “Unser Programm bedeutet Bürgerwehren, Massenverhaftungen, Deportationen, Krieg und Verfolgung.“
      2. Ja, das Ergebnis der Wahl passt mir nicht, um es mal milde zu formulieren. Ich fühle mich von diesen Leuten und ihrem menschenverachtenden Gedankengut bedroht und werde alles tun, mein in unserem Grundgesetz verbrieftes Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu nutzen, um gegen sie zu protestieren. Dieses Recht hat die andere Seite genauso.
      3. Ich bin ganz sicher keine Bedrohung für unsere Demokratie. Die AfD hingegen schon. Mit vielen Aussagen hat sie sich gegen grundsätzliche Menschenrechte und das Grundgesetz gestellt. Sie hetzt gegen Muslime, Ausländer, „Eliten“, „Systemparteien“, Genderforscher, Wissenschaftler, „Lügenjournalisten“, Homo- und Transsexuelle, Linke, Frauenrechte. Das Ziel der AfD ist das Ende der offenen Gesellschaft, gegebenenfalls unter Einsatz von Gewalt („entsorgen“, „notfalls schießen“).
      Angesichts der deutschen Geschichte erschüttert es mich, wie viele Menschen der AfD und ihren billigen Parolen auf den Leim gehen. Jeder, der die AfD „aus Protest“ gewählt hat, nimmt als Kollateralschaden in Kauf, dass Nazis in den Bundestag kommen. Es standen genug andere Parteien zur Wahl mit z. T. weit auseinanderliegenden Positionen zu verschiedensten Themen. Aber nein, man wählt die Partei, die Ausländer entsorgen will. Ich hoffe inständig, dass diese Partei sich selbst zerlegt, was ja teilweise durch den Umgang untereinander schon passiert.
      4. Last but not least: Ich kann sehr gut damit leben, dass AfD-Fans mein Blog nicht lesen.

    • Carlo

      An dieser Stelle fangen die Probleme, mit unklaren Begriffen und dem Laufen im Hamsterrad, schon an. Demokratie ist nicht definiert. Parteien sind Produkte der parlamentarischen Demokratie. Die klassische Demokratie der griechischen Stadtstaaten kennt weder Parlament noch Parteien noch Wahlen. Dagegen wurde die parlamentarische Demokratie von Madison, Hamilton und Jay mit dem klaren Ziel entwickelt, das »Volk« vom Regieren abzuhalten.
      Menschenverachtende Politik gehört zu jedem gesellschaftlichen System, dessen Ziel Herrschaft ist.
      Man sollte dann auch nicht die Gesetze zu HartzIV, Massenüberwachung, Jugoslawienkrieg, Privatisierung öffentlichen Eigentums oder schon immer fehlende Gesetze zur Giralgeldschöpfung der Geschäftsbanken vergessen. Keiner der Parteien geht es wirklich um Freiheit und das gute Leben aller Menschen. Umverteilung von »unten« nach »oben« oder umgekehrt hat nichts mit »Demokratie«, Freiheit und »Gerechtigkeit« zu tun. Sie begründet immer neues Unrecht.
      Lohnt es tatsächlich, über Parteien zu debattieren?

      • Die Annahme, es gäbe klare Begriffe, ist irrig. Jeder Begriff ist unscharf, wir haben allenfalls eine ungefähre Vorstellung, was gemeint ist. Da ich auch Übersetzungen mache, kann ich ein Liedchen davon singen. Das Pendant eines Wortes in einer anderen Sprache meint selten exakt dasselbe. Zum Thema Demokratie: Es ist Mode geworden, sie schlecht zu reden. Aber wie schon Churchill sagte: „Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.“ Sicher ist vieles verbesserungswürdig. Hier ein interessanter (und sehr langer) Artikel dazu: http://www.bpb.de/apuz/191195/losverfahren-ein-beitrag-zur-staerkung-der-demokratie?p=all Aber nichts ist perfekt. Ich finde es schwierig, mit einem Anspruch von Perfektion und „Reinheit“ an die Dinge ranzugehen. Das endet schnell in der Radikalität. Wir müssen Unzulänglichkeit akzeptieren: in der Sprache, in Regierungssystemen und im Menschen an sich. Alles ist immer nur eine Annäherung an das Perfekte. Ich hoffe, ich drücke mich verständlich aus. 🙂

      • Carlo

        Zunächst einmal denke ich nicht, dass wir beide Verständigungsprobleme hatten oder haben. Mir geht es auch nicht um Reinheit oder Perfektion, sondern um Definition. Es ist für mich normal, dass sich auch Gesellschaften durch Trial and Error entwickeln.
        Aber: Nehmen wir an, dass in einem Land 80% der Menschen (Mehrheit) beim Bezahlen jeder Rechnung (besonders bei Mieten) und jedes Einkaufs ungefragt zugunsten von 10% (Minderheit) finanziell enteignet werden. Würde so ein Land das Attribut »demokratisch« verdienen oder eher nicht? In wessen Interesse wirkten »demokratisch« gewählte Gesetzgeber und Regierung, damit das Land so aufgestellt sein kann? Könnte man das einfach als Unzulänglichkeit akzeptieren?
        Übrigens ist Deutschland so ein Land.
        Jemanden, der nur seinem Gewissen verpflichtet ist und mich nicht kennt, durch Wahl mit der Macht auszustatten, mich zu vertreten, wäre »demokratisch« oder eher ein potentieller Gewissenskonflikt?
        Wenn ich »etwas« wähle, was keine einheitliche Identität und selbst kein aktives Wahlrecht hat, ist »demokratisch«?
        Aus welchem logischen Grund sollte ich mich in einer Demokratie überhaupt von jemandem vertreten lassen und meine eigenen Interessen delegieren?
        Es fehlt eine Definition für Demokratie, die unabhängig von Meinungsführerschaft und Deutungshoheit bestand hat. Sonst kann jeder den Begriff für sich übersetzen, wie er möchte. Bedauerlicherweise auch jede Partei, die AfD und ihre Anhänger eingeschlossen. Nutznießer von Unklarheit sind immer die Demagogen. Hitler meinte, dass er die »Demokratie« nicht abgeschafft habe, sondern »vereinfacht«.
        Ich habe kein Problem damit, die sehr spezielle Form der Demokratie in Deutschland als das zu bezeichnen, was sie ist: eine parlamentarische. Das wäre dann sogar für mich eindeutig.
        P.S.: Den Hinweis auf ein Losverfahren gab ich bereits in meinem letzten Beitrag. Er versteckte sich hinter dem Wort Demarchie. Im Übrigen habe ich nichts gegen eine radikale »Demokratie«.

  4. Ein toller Artikel! Mir geht es (meist!) genauso. Ich bin zum einen erstmal nicht allzu gern Mitglied einer Gruppe, die ich mir nicht ausgesucht habe. Zum anderen schrecken mich besonders Gruppen ab, die mit zu festen Regeln strukturiert sind, z.B. Vereine, Kirchen, Sekten, Clubs …
    Andererseits findet meine Arbeit in Gruppen statt. Die Zugehörigkeit zu und vor allen Dingen das Arbeiten IN einer Gruppe, sind Kern meines Kurses. Wobei es nicht allzuviele Regeln gibt und diese stets frei änderbar sind. Selbstverantwortung jedes einzelnen steht bei mir immer an erster Stelle. Es gibt keinen Führer, die Entscheidungen werden basisdemokratisch getroffen, mal per Kompromiss, per Abstimmung oder Konsens. Je nachdem, was den Gruppenmitgliedern gerade passend erscheint.
    Diese Gruppenform ist wahnsinnig anstrengend. Man kann sich nicht so einfach mitziehen und mittreiben lassen. Man muss dauernd denken.
    Aber genau das ist auch die Gruppenform, in der ich mich selbst wohlfühle.
    Und wenn ich das nicht haben kann: dann bin ich lieber alleine. Oder auch zu zweit.;)

  5. […] mit den langen Diskussionsrunden mit den Mitgliedern, bis man sich auf etwas geeinigt hat – diese Gruppendynamik muss man aushalten […]

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