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Das schleichende Gift

Eine Vorlesung, Thema Compliance. Der Professor sagt etwas, das lange nachhallt: Korruption beginne schleichend. Es sei eben nicht so, dass der Kollege mit dem Vorschlag komme, ein paar Hundert oder Tausend Euro auf sein Konto zu überweisen.

Nein, es fängt damit an, dass besagter Kollege mit der kriminellen Energie dir einen Kaffee mitbringt. Und sich immer wieder mal über Regeln hinwegsetzt. Du gehst mit ihm ein Bierchen trinken. Und dann eines Tages sagt er: „Ach komm, unterschreib doch mal für mich hier.“

Dieser Kollege ist nicht der pockennarbige Einzelgänger mit dem komischen Hobby. Er ist charmant und beliebt, vielleicht sogar der Charmanteste und Beliebteste, ein Überflieger. Die Kunden lieben ihn, die Kollegen suchen seine Nähe. Als er auffliegt, kann es niemand glauben. Der???

Hannah Arendt hat in ihren Aufzeichnungen über den Eichmann-Prozess in Jerusalem oft genug erwähnt, dass Adolf Eichmann lediglich in Klischees denken konnte – ein Zeichen seiner Einfältigkeit, seiner mangelnden geistigen Flexibilität. Ihm fehlten die Worte für komplexere Gedankengänge.

Medien und Filme verbreiten Klischees, Kunst und Satire sowieso. Klischees sind nützlich – und oft genug wahr, wenigstens ein bisschen, sonst würden sie nicht existieren. Dank ihnen finden wir uns in der Welt zurecht. Wir ordnen ein in unsere Schubladen. Puh, passt! Und doch lassen sie uns blind werden für die Wirklichkeit. Klischees schaffen falsche Erwartungen, wie etwas zu sein hat.

Am Ostseestrand mit dem Syrer, überall Nackte. „Hey, was sagst du zu all den Nackten?“ Und der Syrer: „Kenn ich doch schon vom See.“ Der Syrer ist nicht so, wie wir denken. Er kennt Transen aus dem Irak. TRANSEN? Aus dem IRAK??

Vieles ist nicht so, wie wir es uns vorstellen. Im Internet kursiert dieses Gedicht von Michael Rosen:

I sometimes fear that
people think that fascism arrives in fancy dress
worn by grotesques and monsters
as played out in endless re-runs of the Nazis.
Fascism arrives as your friend.
It will restore your honour,
make you feel proud,
protect your house,
give you a job,
clean up the neighbourhood,
remind you of how great you once were,
clear out the venal and the corrupt,
remove anything you feel is unlike you…
It doesn’t walk in saying,
“Our programme means militias, mass imprisonments, transportations, war and persecution.“

Zu deutsch:

Ich fürchte manchmal
Die Leute denken, dass der Faschismus in Uniform kommt
getragen von Fratzen und Monstern
wie man es aus den endlosen Wiederholungen der Nazi-Dokus kennt.
Faschismus kommt als dein Freund.
Er wird deine Ehre wiederherstellen,
dich stolz machen,
dein Haus schützen,
dir einen Job geben,
dein Viertel säubern,
dich daran erinnern, wie großartig du warst,
Bestechlichkeit und Korruption ausmerzen,
alles entfernen, das nicht so ist wie du…
Er kommt nicht herein und sagt:
“Unser Programm bedeutet Bürgerwehren, Massenverhaftungen, Deportationen, Krieg und Verfolgung.“

(Hervorhebungen von mir)

Der Faschismus kommt als dein Freund, als liebenswürdiger Mensch. Die Freundin, die schon immer konservativ war, sondert nur noch Verschwörungstheorien ab. Zirkuläres Denken, man kennt das von Sekten. Diskussion zwecklos. Die Freundin ist jetzt ein Nazi. Ein Nazi, die?! Sie ist hochintelligent, gebildet, weitgereist. Fast könnte sie ein Klischee aus einem Nazi-Film sein: wie der KZ-Aufseher, der versunken Wagner hört. Sie hat ihr Nazisein zum Job gemacht, streut das Gift jetzt professionell.

Hitler hat seinen Aufstieg über Jahre vorbereitet, den Menschen seine toxische Ideologie tröpfchenweise verabreicht, bis sie es irgendwann nicht mehr merkten, wie ihre Toleranz schwand, ihre Hemmschwelle sank. Bis sie es irgendwann nicht mehr störte, dass ihre jüdischen Nachbarn „verschwanden“.

Trump macht vor, wie man ungestraft Regeln bricht – ein Vorbild für alle Schulhofschläger, Sexisten, Rassisten und Betrüger. Wie will man einem Kind (oder sich selbst) erklären, dass etwas nicht OK ist, wenn doch der Präsident der Vereinigten Staaten es machen darf? Jeden Tag, vor unser aller Augen, ohne Konsequenzen.

Ein Mann, der dumm ist im Eichmannschen Sinne, sich nur floskelhaft äußern und schwer fokussieren kann. Irak, Syrien – Hauptsache Afrika. Die Banalität des Bösen: Das Böse trägt Toupet.

Trump gründet keine SA, das braucht er nicht. Er hat die Homeland Security, den Grenzschutz, für den eigene Regeln gelten. Er deportiert die Illegalen, er bombt den IS, und selbst ich ertappe mich manchmal dabei, wie ich denke: Vielleicht ist es ja doch richtig. Dass mal einer aufräumt. Bomb den Scheiß-IS, mach ihn weg. I’m so sick of this shit.

Aber natürlich weiß ich, dass es noch nie ein Problem gelöst hat, irgendwo eine Bombe draufzuwerfen.

Während all das passiert, wirst du alt. Ich, alt? Du schaust in den Spiegel und denkst: „Geht doch. Hier ein Fältchen, da ein Fältchen, was soll’s.“ Irgendwann entdeckst du ein paar Flecken und der Hautarzt sagt: „Ach, das? Das sind nur Altersflecken.“ Bitte was?!

Du merkst, wie das Leben mit den Jahren anstrengender wird. Wie du etwas länger brauchst, um dich zu regenerieren. Vielleicht wird dein Radius kleiner. Du wirst langsamer. Ein bisschen nur, aber es setzt sich fort.

Manchmal hast du das Gefühl, nicht mehr mitzukommen. Ständig neue Apps, neue Geräte. Das Online-Banking sieht auch schon wieder ganz anders aus, verdammt. Und dieses Snapchat, damit willst du dich gar nicht mehr befassen. Keine Lust. Dabei bist du doch ein Techie, eigentlich. Und – du bist doch noch gar nicht so alt. Geht das denn schon los?

Es kein Raum da, in Ruhe älter zu werden. Das Klischee fordert die „aktiven Alten“: topfit, körperlich und geistig. Können genau das, was die Jüngeren können, vielleicht sogar noch mehr. Der Marathon-Opa, die Gymnastik-Oma. Und Heidi Hetzer tuckert um die Welt.

Das ganze Leben als stramme Leistungslinie, sorgfältig mit dem Lineal gezogen.

Der Burnout kommt nicht als Stresswelle. Er schleicht sich ein, verschiebt Grenzen, spielt mit deinem Leistungswillen. Der Fiesling mobbt dich nicht, er lächelt dich an und lässt dich auflaufen. Immer wieder, bis du nicht mehr kannst.

Aber ein Gutes hat es: Du wirst älter, Du wirst weiser. Du siehst hinter die Fassade.

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Ein Kommentar

  1. Liegt da etwas in der Luft?
    Ich habe etwas ganz ähnliches zum Anlass genommen, das hier zu schreiben:
    https://up2u.blog/2017/04/19/faulty-tolerance/
    Nur eben von der anderen Seite.
    Toleranz ist gut und notwendig. Sie läßt Dich die Dinge ertragen.
    Wie bspw. „das Alter“. Oder Deine Spüle, wenn es gerade Wichtigeres gibt.
    Nur ist sie unangebracht bei dem freundlichen Kollegen, der die Nachbarschaft für Dich „säubert“ …
    Da ist es „faulty tolerance“.

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