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"Das gekaufte Herz": Über die Kommerzialisierung der Gefühle

Ich hätte nicht gedacht, dass ein 32 Jahre altes Buch mich derart in Aufregung versetzen könnte. Durch Zufall (es gibt keine Zufälle, wisst Ihr ja) habe ich es in den Fußnoten eines US-amerikanischen Blogs entdeckt und sofort angefangen zu lesen: „Das gekaufte Herz – Die Kommerzialisierung der Gefühle“* von Arlie Russell Hochschild. War ihre Doktorarbeit und hat damals hohe Wellen in der Fachwelt geschlagen.

Das Thema hat mich so angefixt, dass ich sogar im Urlaub nicht davon lassen konnte. Und so sah man mich im Flugzeug nach Delhi ein Buch lesen, in dem es um den Seelenzustand von Flugbegleiterinnen und Flugbegleitern geht. Strange enough. Aber dazu später mehr.
Ein gekauftes Herz – so hat sich meins oft genug angefühlt, wie ich ja ziemlich deutlich in dem Artikel über unser aller Korruption ausgeführt habe. Oft habe ich mich gefragt: wie viel von meiner Persönlichkeit, meinen Gefühlen muss ich, will ich und vor allem darf ich einbringen in meinen Job?

Oft wird man gezwungen (oder subtil aufgefordert), seine Persönlichkeit zu unterdrücken, eine Rolle zu spielen, Gefühle und Gedöns zu negieren. Ob das gesund ist? Die Statistiken sprechen eine klare Sprache: Wir gehen psychisch vor die Hunde.

Aber Arlie Russell Hochschild geht noch einen Schritt weiter. Ihr geht es darum, dass Gefühle zur Ware werden. Wie bei den Flugbegleiterinnen der Delta Airlines, die sie für ihr Buch studierte: Von ihnen wird erwartet, dass sie immer freundlich lächeln. Aber ein aufgesetztes Lächeln reicht nicht. Ihr Lächeln soll von Herzen kommen. Es wird also gefordert, dass die Stewardess (ich nehme jetzt mal die weibliche Form, da die Mehrheit in diesem Job weiblich ist und da gerade Frauen ja auf das Gefühlsthema „abonniert“ sind) sich selbst so weit manipuliert, dass ihr Lächeln echt ist. Und damit sie das schafft, werden ihr vom Arbeitgeber „Tipps & Tricks“ beigebracht. Ziemlich gruselig, wen man genauer drüber nachdenkt.

Klar geht es im Job immer um den Spagat zwischen Authentizität und Professionalität. Freundlichkeit ist in Dienstleistungsberufen wichtig. (Außer in Berlin, hehe.) Aber permanent schauspielern zu müssen (und sogar Techniken anwenden zu sollen, die Profi-Schauspieler nutzen, wie die Wissenschaftlerin nachweist) – das ist auf Dauer eine psychische Überforderung und kann nicht gesund sein.

Was also hat Frau Hochschild noch herausgefunden? (Ich fasse in bewährter Manier mal das Buch für Euch zusammen 😉 und ergänze mit eigenen Erkenntnissen.)

  • Es gibt einen Trend zur wirtschaftlichen Verwertung von Emotionen, insbesondere (aber nicht nur) im Dienstleistungsbereich. Beschäftigte werden genötigt, gewünschte Emotionen auf Knopfdruck zu aktivieren und unerwünschte zu unterdrücken. Ich sehe diese Thematik auch sehr stark bei Führungskräften, die – obwohl sie häufig mehr Informationen und daraus resultierend widersprüchliche Gefühle haben – ihren Untergebenen positive Unternehmensbotschaften vermitteln müssen.
  • Eine gewisse Gefühlsarbeit ist eine normale Anforderung an das Alltagsleben von Erwachsenen. (Deshalb werfen wir uns im Supermarkt auch nicht schreiend auf den Boden, wenn unser Lieblingsjoghurt aus ist.) Der ständige Zwang, im Berufsleben die Emotionen an Rollenerwartungen anzupassen, kann jedoch dazu führen, dass die Signalfunktion der Gefühle verloren geht. D.h., Gefühle funktionieren nicht mehr als Informationsträger für die reale Befindlichkeit und die authentische Bewertung von erlebten Situationen. Gerade in unserer komplexen Welt, die äußerlich immer weniger Orientierung bietet, wird der innere Radar aber immer wichtiger. Und „die kommerzielle Verzerrung des ‚geraubten Herzens‘ rückt als Faktor menschlicher Kosten umso stärker in den Mittelpunkt“, wie Hochschild schreibt. (S. 45)
  • Gefühlsnormen existieren auch im Alltag: Bei der Hochzeit hat das Brautpaar sich zu freuen. Auf Beerdigungen wird geweint. Auf einer langweiligen Party versuchen wir, unser Unwohlsein nicht zu zeigen. Wir machen gute Miene zum bösen Spiel, um anderen nicht weh zu tun. Dieser Gefühlsaustausch funktioniert, weil er auf Gegenseitigkeit beruht. Bestehen jedoch Statusunterschiede (wie es im Job oft der Fall ist), hat der Unterlegene einen höheren Preis zu zahlen. Mit anderen Worten: „Wo der Kunde König ist, ist ungleicher [Gefühls-]Austausch an der Tagesordnung.“ (S. 95) Oder auch wo der Vorgesetzte König ist, füge ich hinzu. Wut und Ärger werden runtergeschluckt. Freundlichkeit und Verständnis werden nach außen dargestellt.
  • Die Spannung zwischen dem dargestellten und dem tatsächlich existierenden Gefühl führt auf Dauer zu einer emotionalen Dissonanz und zu Stresserscheinungen. „Unsere“ Gefühle sind nicht mehr unsere Gefühle. Wir werden uns fremd.
  • Dies gilt in besonderem Maße für Führungskräfte in großen Unternehmen: Für sie „werden politische, religiöse und philosophische Überzeugungen berufsentscheidend; die Verbindungen zwischen dem eigenen Ich und der Arbeit werden vielfältig und diffus zugleich. Jahre des Trainings und der Erfahrung führen, zusammen mit einer von Zuckerbrot und Peitsche geprägten Disziplin, zu einer immer weiter gehenden Entfremdung vom eigenen Selbst, d.h. zu einer Verinnerlichung der Gefühlsnormen des Unternehmens. Schließlich kommt es dahin, dass die Normen, die vorschreiben, wie man die Dinge zu sehen und zu empfinden hat, als ganz „natürlich“ und als Teil der eigenen Persönlichkeit erscheinen. Dieser Prozess vollzieht sich umso gründlicher, je länger die Anstellung dauert und je mehr sich die Arbeit in Begriffen von Einfluss, Macht und Entlohnung auszahlt.“  (S. 122) Dies habe ich alles so erlebt und kann es unterschreiben. Deshalb feiere ich seit meiner Kündigung jeden Tag meine zurückgewonnene Gefühls- und Meinungsfreiheit, u. a. hier bei Büronymus. 🙂
  • Am Beispiel der Ausbildung der Flugbegleiterinnen wird deutlich, dass den Angestellten gezielt schauspielerische Techniken beigebracht werden, die der „Als ob“-Methode von Stanislawski entsprechen. Sie sollen ihr Gefühlsgedächtnis aktivieren und sich z. B. an besondere Erlebnisse von Gastfreundlichkeit erinnern. Schwierige Passagiere sollen sie sich als „Kinder“ vorstellen. (Vergessen wir nicht, dass diese Frauen nicht bewusst den Beruf der Schauspielerin gewählt haben und natürlich noch ganz andere Aufgaben haben, z. B. die Sicherheit an Bord zu gewährleisten. Und vergessen wir auch nicht, dass Fluggesellschaften keine Expertise in Psychologie haben und keine Verantwortung für die gesundheitlichen Folgen der von ihnen verordneten Selbstmanipulation der Mitarbeiter übernehmen.)
  • Übrigens: Während ich an diesem Artikel arbeitete, hat mich der Low_Performer auf Twitter auf dieses Interview in der ZEIT aufmerksam gemacht, in dem Führungskräften Schauspielunterricht empfohlen wird. Geht’s noch?? Die armen Untergebenen müssen sich dann mit schlecht schauspielernden Führungskräften rumschlagen, oder wie? Moment, eigentlich wäre das doch eine Idee für die nächste Stromberg-Folge! Bernd Stromberg lernt Method-Acting, um seine vielen Rollen besser auszufüllen. Spontan fallen mir folgende Rollen ein, an denen er noch mal etwas feilen könnte: Arschloch, Vaterfigur, hilfsbedürftiger Nichtwisser, Rassist, allwissender Oberhäuptling, Chauvi, einsamer Wolf…) Ich schreib mal an die Redaktion. 😉 Lest bitte auch die Leserkommentare zu diesem Artikel – die Begeisterung über schauspielernde Manager ist groß. 😀 Aber zurück zum Thema Gefühle.)
  • „Menschen mit einem hohen Status genießen in der Regel das Privileg, dass man ihre Gefühle zur Kenntnis nimmt und für wichtig hält.“ (S. 142 ff.) Das kann man sehr gut beobachten in hierarchischen Organisationen: Wird ein kleiner Angestellter entlassen, muss auf dessen Gefühle keine großartige Rücksicht genommen werden. Geht es hingegen um einen der Oberhäuptlinge, so wird einiges getan, um dessen Gesicht zu wahren und ihn „weich fallen zu lassen“.
  • Auch in der Auseinandersetzung mit Untergebenen ist eine statusbedingte Gefühlsdoktrin praktisch: „Die Gefühle der statusniedrigeren Partei lassen sich auf zweierlei Art übergehen: entweder, indem man sie als begründet, aber bedeutungslos betrachtet oder indem man sie als irrational ansieht und sie deshalb unter den Tisch fallen lässt.“ Frauen, kommt Euch das bekannt vor? Vielleicht deshalb:
  • Ein Statusunterschied besteht (und leider auch noch 2015!) ebenfalls bei den Geschlechtern: Gefühle von Frauen werden weniger zur Kenntnis genommen und für wichtig gehalten. „Man glaubt, dass Frauen emotionaler sind, und dieser Glaube bedingt die Abwertung ihrer Gefühle. Das bedeutet, dass Gefühle von Frauen nicht als Reaktion auf wirkliche Ereignisse, sondern als Reflex ihrer ‚Emotionalität‘ verstanden werden.“ Ich werde gerade etwas traurig, während ich diesen Satz abtippe. Vor allem wenn ich mir die Studie anschaue, die Hochschild u. a. als Beleg anführt: Verbal geäußerte Krankheitssymptome von Frauen nehmen Ärzte erwiesenermaßen weniger ernst als die von Männern. D.h., Frauen erhalten seltener die notwendige Behandlung.Übrigens: Stellen Frauen als Reaktion auf diese Ungleichheit ihre Gefühle noch stärker heraus, begeben sie sich in einen Teufelskreis: Sie bestätigen das Klischee der „Emotionalität“. „Der einzige Ausweg aus dieser Gefühlsdoktrin besteht im Durchbrechen der grundlegenden Verknüpfung zwischen Geschlecht und Status.“ (Amen.)

Schon bemerkenswert: Arlie Russell Hochschild fängt bei Gefühlen an zu forschen und kommt über das Thema Status mitten hinein in die Geschlechterdebatte.

Mein Fazit: Unternehmen diktieren Angestellten immer mehr, was sie zu fühlen haben. Letztlich sind auch jegliche Versuche, künstlich Motivation oder gar Begeisterung, ja eine Identifikation mit dem Unternehmen zu erzeugen, Gefühlsmanipulation. (An denen ich im Übrigen als Kommunikationsverantwortliche direkt beteiligt war. Aber dazu an anderer Stelle mehr.)

Das letzte Wort soll wieder Frau Hochschild haben: „Auf diese Weise verlieren die Angestellten die Verbindung zu ihren Gefühlen, wie dies beim ‚Ausgebranntsein‘ der Fall ist…“ Da steht’s: Gefühlsmanipulation trägt zum Burnout bei.

PS: Was ich hier ausgelassen habe, sind die Berichte der Flugbegleiterinnen über aggressive Übergriffe von frustrierten Passagieren. Aufgrund ihres niedrigeren Status und des damit fehlenden sozialen Schutzschildes sind die weiblichen Angestellten diesen Aggressionen viel stärker ausgesetzt. Die männlichen Flugbgleiter werden in solchen Situationen oft hilfesuchend dazugeholt, was wiederum deren ohnehin schon höheren Status stärkt. Hat jetzt nicht unmittelbar mit meinem Thema zu tun, ist aber sehr heftig. Daher meine Bitte: Seid beim nächsten Flug besonders nett zu den Flugbegleiterinnen und Flugbegleitern. :/

*Support your local dealer! Kauf Bücher am besten bei der Buchhändlerin um die Ecke.

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5 Kommentare

  1. […] Nix davon. Richard Branson machte sich Notizen und ließ neue Uniformen entwerfen. Denn er weiß, dass eine zwickende Uniform auch den bestgelaunten Angestellten die Laune verhageln kann. Und gute Laune gehört ja zu den Grundanforderungen an das fliegende Personal. […]

  2. […] Von der Inhaberin einer total hippen, sympathischen, familiären Agentur. Aber klar, Frauen bilden sich das ein. Und von allem, was mir Freunde und Büronymus-Leser so erzählen, ist das fortschrittliche […]

  3. […] das vermehrte Auftreten des Burnout-Syndroms vermutete Maslach den Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Dies wurde allerdings später angezweifelt, da Burnout auch außerhalb der Dienstleistungsberufe […]

  4. […] man dieses Experiment als Einzelfall abtun, gäbe es nicht Erkenntnisse, die ich in meinem Artikel „Das gekaufte Herz“ bereits erwähnt hatte. Die Soziologin Arlie Russell Hochschild schreibt in ihrem gleichnamigen […]

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