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Das analoge Büro

Wenn mir langweilig ist, gucke ich manchmal im Netz Videos über Kinder, die daran scheitern, ein Wählscheibentelefon oder eine Schreibmaschine zu bedienen. Die kennen das überhaupt nicht mehr!

Dabei fiel mir letztens auf, dass ich selbst ein Kind des Computerzeitalters bin. So ein analoges Büro kenne ich gar nicht mehr. Bei meinem ersten Bürojob stand schon ein 286er PC auf meinem Schreibtisch. Schwarzer Bildschirmhintergrund, orangene Schrift. Ich hab tatsächlich noch ein Foto von 1994 gefunden:

Icke am 286er. Auffällig auch: Telefone haben sich kaum verändert.
Icke am 286er. Auffällig auch: Telefone haben sich kaum verändert.

Wie hat man eigentlich vorher gearbeitet – ganz analog, ohne Computer, Drucker, Telefonkonferenzen und vor allem ohne E-Mail? Wir im Osten hatten ja nicht mal Kopierer. (Aus gutem Grund, wie unsere Regierung fand.) Ich beschloss, meinen 75-jährigen Vater zu fragen. Er war früher im DDR-Außenministerium, in einer Botschaft und später in einer staatlichen Gesellschaft tätig. Im Interview bezieht er sich vor allem auf die Büroarbeit in den 70er Jahren.

Ziemlich schnell nahm das Interview eine überraschende Wendung, denn es entwickelte sich zu einer Lobeshymne auf eine vom Aussterben bedrohte Berufsgruppe.

Also Papa, wie lief das denn damals so ohne Computer?

Am meisten konnten einem die Sekretärinnen leidtun. Die mussten ja manchmal denselben Text zehnmal abtippen. Kaum hatten sie ihn fertig, schrieb jemand Anmerkungen rein oder strich etwas raus, und wenn es ein wichtiges Schreiben war, konnte man das ja nicht so weiterschicken. Also wurde es neu abgeschrieben.

Auch bei einem Schreibfehler musste in der Regel die ganze Seite noch mal abgetippt werden. Die Rechtschreibung und gewisse Normen, wie ein Schreiben aussehen musste, wurden damals fanatisch beachtet. Über jeden Fehler oder einen falschen Absatz oder Zeilenabstand wurde die Nase gerümpft. Das fiel auf den Absender zurück. Tipp-Ex ging vielleicht für interne Schreiben, aber ansonsten hieß es: noch mal abtippen.

Als ich Jahrzehnte später das erste Mal selbst am Computer saß, war das ungewohnt. Aber dann stellte ich fest, dass man Tippfehler sofort korrigieren kann. Was für eine Wohltat!

Es gab damals auch keine Kopierer, sondern nur Blaupapier und später dünnes Durchschlagpapier. Wichtigen Adressaten konnte man aber kein labberiges Durchschlagpapier schicken. Da wurde dann wieder der komplette Text mehrmals abgetippt. Wenn das ein Brief war von ein, zwei Seiten – okay. Aber es gab ja teilweise Reden und Vorträge von 30, 40 Seiten.

Vielleicht mal so zum Tagesablauf. Bei mir ist es immer so: Ich komme ins Büro, schalte den Computer ein und checke meine E-Mails. Also, die neuen, denn die ersten Mails des Tages lese ich meistens gleich nach – äh, eigentlich vor dem Aufstehen. Wie fing dein Tag damals an?

Als erstes habe ich mich an den Schreibtisch gesetzt und in die Zeitungen geguckt.

Zeitungen! Ach ja!

Also wenigstens zehn Minuten quergelesen, die Überschriften und den einen oder anderen Artikel. Man musste ja informiert sein. Dann begann die Arbeit, indem man Telefonate geführt hat zu anstehenden Vorhaben oder Problemen. Oder ich habe etwas ausgearbeitet, eine Vorlage zum Beispiel oder eine Analyse zu einer bestimmten Situation. Es wurde ja erst mal alles mit der Hand geschrieben. Als dann die Diktiergeräte aufkamen, konnte man auch auf Band diktieren.

Die Sekretärinnen hatten immer sehr viel zu tun. Sie waren meistens für fünf bis sechs Mitarbeiter zuständig. Es wurde ja sehr viel geschrieben. Alles musste schriftlich festgehalten werden.

Die meisten Mitarbeiter in der Behörde konnten nicht mit der Schreibmaschine umgehen. Dann standen wir manchmal Schlange im Sekretariat. Und wenn der Chef etwas hatte, ging das natürlich vor und wurde zuerst abgetippt. Da musste man warten.

Dann gab es immer mindestens eine Kopie für die Ablage. Auch dafür war die Sekretärin verantwortlich. Sie kannte das Ablagesystem, sortierte, beschriftete und verwaltete alles. Alle Schreiben wurden in Akten verwahrt, nach soundso viel Jahren gingen sie in eine Art Zwischenablage, nach Ablauf einer bestimmten Frist dann endgültig ins Archiv. Wenn dann irgendeine Frage oder ein Problem auftauchte, wusste die Sekretärin: „Ach, das war vor 2 Jahren und das Protokoll liegt da und da.“

Das klingt alles sehr ordentlich. Heute auf dem Computer muss man ja nicht mal eine Ordnerstruktur haben. Man könnte theoretisch alles auf einem Haufen speichern und dann über die Suche des Computers finden. (Also, als Mac User. 🙂 ) Das heißt ja, die Sekretärin war sozusagen Ordnerstruktur und Suchmaschine in einem?

Ja, es war damals lebenswichtig, eine Ordnung zu haben. Die Sekretärin nahm dadurch eine Schlüsselstellung ein. Alles, was in der Institution passierte, ging über ihren Tisch. Wirklich alles. Sie kannte den gesamten Schriftverkehr, wusste, wo was abgelegt war, verwaltete die Adressbücher und Terminkalender. Sie war die bestinformierte Person im Haus.

Übrigens – nur mal am Rande – war das einer der Gründe, warum während des Kalten Krieges die Sekretärinnen oft von den Geheimdiensten anvisiert wurden. Sie wussten eben alles – viel mehr als der einzelne Mitarbeiter.

Das war doch aber generell ein Risikofaktor. Was passierte, wenn die Sekretärin krank war oder kündigte?

Wenn sie krank war, lief nichts mehr. Gar nichts. Vielleicht gab es einen pfiffigen Mitarbeiter, der es selbst versucht hat an der Schreibmaschine. Aber wenn der einmal daneben gehauen hat, musste er eben wieder von vorn anfangen. Die Masse konnte das nicht.

Jemand, der Schreibmaschine schreiben konnte, hatte also einen wichtigen und wertvollen Beruf. An einen Computer kannst du heute jeden dransetzen, der kein Vollidiot ist. Die Sekretärinnen konnten enorm schnell schreiben und blind. Das mussten sie auch, denn wenn sie eine gewisse Geschwindigkeit nicht schafften, stapelte sich alles bei ihnen. Die Stars unter ihnen konnten sich neben dem Tippen sogar noch unterhalten.

Außerdem beherrschten sie Stenografie – eine Kurzschrift, mit der sie Sitzungen und Konferenzen protokollieren konnten. Das gibt es heute kaum noch, außer im Bundestag oder bei Gericht.
Eine gute Sekretärin war damals Gold wert. Sie wurde behandelt wie ein rohes Ei und man passte auf, dass sie nicht wegging.

Das war auch ein ganz harter Job, weil sich immer alles auf sie konzentrierte. Sie war dadurch nicht nur psychisch, sondern auch physisch stark belastet. Die Schreibmaschinentastatur war ja früher viel schwerer anzuschlagen als heute ein Computer. Durch das viele Tippen hatten sie oft Beschwerden. Sehnenscheidenentzündungen waren eine Art Berufskrankheit. Wenn man das 35, 40 Jahre lang gemacht hat…

Heute hat jeder seinen Computer und schreibt selbst, auch der Chef. Das konnte damals keiner der Mitarbeiter. Es war nicht üblich und teilweise unter ihrer Würde. Insofern war man total abhängig von der Sekretärin. Das Wohl und Gedeihen einer Firma hing von der Sekretärin ab. Sie war Herrin über alle Termine, hat das Kalendarium geführt und auch die Leute erinnert: „Sie haben heute um 14 Uhr den Termin bei XY.“

Sie war also auch die Kalender-Software.

Ja. Und die Telefonzentrale. Denn auch die Telefonate liefen über die Sekretärin. Sie wusste, wer wann am besten über welche Nummer zu erreichen war. Sie hatte das Telefonbuch.

Man konnte nicht einfach mal schnell irgendwo anrufen. Die Telefonnetze waren veraltet und überlastet. Es war sehr schwer durchzukommen und man musste x-mal von vorne wählen, damals ja noch mit der Wählscheibe. Ohne Wiederholungstaste oder Speicher. Außerdem hatten viele Leute zu Hause kein Telefon und haben also auch ihre Privatgespräche vom Büro aus geführt. Und wenn besetzt war, war besetzt.

DDR Telefon
Typisches Telefon in frischem Steingrau. Man beachte den Durchstellknopf.

Stimmt, es gab ja keine Anklopfen-Funktion. Und man konnte ja auch nicht sehen, wer angerufen hatte. Von Anrufbeantwortern ganz zu schweigen…

Die Sekretärin hat manchmal unheimlich viel Zeit gebraucht, um eine Telefonverbindung herzustellen. Gerade auch ins Ausland. Oft war schon nach der Landesvorwahl besetzt, dann fing man wieder von vorne an. Und wenn du Pech hattest, waren da plötzlich noch zwei andere in der Telefonleitung, die dazwischen gequatscht haben.

Haha, das kenne ich auch noch! War sehr lustig manchmal. 🙂

Aber im Ernst: Aus heutiger Sicht klingt Eure Arbeitsweise ein bisschen nach einer Horrorvision. Wie diese bürokratische Riesenmaschine bei George Orwell…

Das Schlimmste war, dass eben alles über Schriftverkehr oder Telefon abgewickelt werden musste. Beides war langsam und belastend. Man schickte zum Beispiel jemandem per Post ein Konzept. Meistens war ein Brief 2-3 Tage unterwegs. Dann hast du ewig versucht, denjenigen ans Telefon zu kriegen: „Ist mein Brief schon angekommen?“ „Nein, aber ich guck mal in der Poststelle.“ So lief das nur.

Diese Verlangsamung der Arbeitsprozesse hat uns ganz schön genervt. Das war alles total ineffektiv! Wir kannten es nicht anders, aber es war uns trotzdem bewusst. Den Durchbruch brachten erst die Büroelektronik und natürlich das Internet. Heute drückst du auf den Knopf und schickst binnen Sekunden eine Mail nach Saudi Arabien oder Australien. Vielleicht bekommst du sogar in ein paar Minuten schon die Antwort!

Also war das Arbeiten damals schwerer?

Ich würde schon sagen, man war körperlich belasteter. Heute kannst Du zu Hause im Sessel fläzen und Mails auf dem Smartphone checken. Damals war viel mehr physische Präsenz gefragt. Es gab nicht diesen lässigen Arbeitsstil wie heute. Und der Arbeitsaufwand war so enorm, etwas fertigzustellen – das hat viel Kraft gekostet. Heute arbeitet man mit mehr Leichtigkeit und Effektivität.

Dein Wort in Gottes Ohr! 😉 Danke, Papa, für das interessante Gespräch.

Bitte folgen Sie mir unauffällig!

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4 Kommentare

  1. […] Telefon- und Videokonferenzen teilweise in einem wahnwitzigen Tempo arbeiten (im Gegensatz zu früher), von dem wir ab und zu mal eine Pause brauchen: Mann, das sollte sich doch langsam rumgesprochen […]

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